Eine virtuelle Reise in Zeit und Raum Entdeckungstouren durch die eigene Familiengeschichte

Unterwegs zu sein, ist in Zeiten von Corona nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Beim Stöbern in alten Dokumenten der Familiengeschichte sind Anknüpfungspunkte entstanden für virtuelle Touren in andere Zeiten und Gegenden.

Die aktuellen Aktivitäten beschränken sich meist auf einen engen Umkreis rund um das eigene Zuhause. Vieles hat sich seit dem Ausbruch der Pandemie in die digitale Welt verlagert. Zumindest über das Internet ist man immer noch mit aller Welt verbunden und kann zumindest virtuell an die entferntesten Orte reisen. Die virusbedingte Zwangspause eröffnet auf der anderen Seite wieder neue Räume. Ich habe zum Beispiel endlich etwas getan, was ich mir schon so lange vorgenommen habe und was sich auch Freunde von mir immer wieder vergeblich vorgenommen haben.

Und zwar habe ich die Kisten und Schachteln hervorgeholt, in denen im Lauf der Jahre die Dinge aus der Familiengeschichte gelandet sind, die man später mal sortieren wollte. Es sind Briefe, Fotos, Dokumente, die seit Jahren oder sogar Jahrzehnten vor sich hin schlummern. Darunter ist sicher manches, was entsorgt werden kann. Aber beim Stöbern habe ich doch einiges entdeckt, was mir die Vergangenheit in einem ganz neuen Licht zeigt. So habe ich in den vergangenen Wochen kleine virtuelle Entdeckungsreisen unternommen, in eine andere Zeit und an andere Orte, die Anregung für andere sein können.

Eine Reise über 100 Jahre

Es ist schon eigenartig, dass ich gleich am Anfang auf eine Schachtel mit alten Fotografien von meinen Großeltern gestoßen bin. Ein Foto zeigt eine hübsche junge Frau. Sie war die Schwester meiner Großmutter. Als ich das Bild umdrehte, war auf der Rückseite vermerkt, dass sie kurz nach der Aufnahme an der Spanischen Grippe verstarb. Was für ein Zufall. Gerade jetzt entdecke ich, dass meine Familie vor 100 Jahren von einer Pandemie betroffen war, die in ihrem weltweiten Ausmaß mit der Coronakrise verglichen wird.

Es ist eine Zeit gewesen, in der die Menschen kurz nach dem Ersten Weltkrieg noch viele Entbehrungen erdulden mussten. Mein Großvater hatte den Ersten Weltkrieg überlebt, war aber in russische Kriegsgefangenschaft geraten und hatte sich bei seiner Flucht zu Fuß von Sibirien nach Hause aufgemacht. Andere hatten nicht so viel Glück.

Ich bin auch auf ein kartoniertes Foto im Großformat gestoßen, das einen feschen jungen Mann zeigt. Es ist der Bruder meines anderen Großvaters gewesen, der als „Held“ bezeichnet wird, weil er 1915 fürs Vaterland gestorben ist. Sein Bruder hat überlebt, aber die jahrelangen schrecklichen Grabenkämpfe, bei denen er auch verwundet und verschüttet wurde, als Trauma sein Leben lang mit sich herumgetragen. Es klingt oft sehr abstrakt, wenn man die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts Revue passieren lässt mit zwei Weltkriegen und Millionen von Toten. Aber dies hat sich ganz konkret auf die Familien ausgewirkt, wie dies auch heute noch in jedem Krieg der Fall ist.

Überraschende Fundstücke im Sammelsurium

Kassenbuch des CVJM in Künzelsau
Kassenbuch des CVJM in Künzelsau

Neben diesen persönlichen Einblicken in die Familiengeschichte habe ich auch anderes entdeckt von allgemeinem Interesse. Rätselhaft ist mir, wie das Kassenbuch des CVJM in Künzelsau im Hohenlohekreis von 1924 bis 1945 im Sammelsurium meiner Eltern gelandet ist. Die sorgfältig eingetragenen Einnahmen und Ausgaben sind ein Spiegel der Geschichte, den es noch zu entziffern gilt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten schlägt sich darin genauso nieder wie die Kriegsjahre. Nach 1940 gibt es nur noch einen Vermerk, nämlich am 25. November 1945, mit der Feststellung des Bankguthabens.

Zu den schönsten Entdeckungen gehören zwei kleine Ölgemälde. Eines zeigt einen von Bäumen gesäumten Feldweg, der zu einem Dorf im Hintergrund führt, ein anderes ist ein Stillleben mit Blumenvase. Ich erinnere mich, dass dieses Bild bei meinen Eltern im Wohnzimmer hing. Das andere ist wohl ein Erbstück von den Großeltern. Als Jugendlicher fand ich die Bilder schrecklich altmodisch. Aber viele Jahrzehnte später haben sie plötzlich einen ganz anderen Reiz.

Luise Deicher – eine unabhängige Frau der 20er Jahre

Besonders interessant ist, dass die Bilder von einer Frau stammen: Luise Deicher. Ein genauerer Blick auf die Künstlerin lohnt sich. Sie zählt nämlich zu den wenigen Frauen, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts die Möglichkeit hatten, die Malerei als Profession auszuüben. Die Geschichte des Bauhauses hat gezeigt, wie schwer es Frauen noch Jahrzehnte später hatten, sich in der Männerdomäne Kunst einen Platz zu erobern.

Die am 6. April 1891 im baden-württembergischen Waiblingen geborene Künstlerin zeigte schon in der Schule ihr künstlerisches Talent. Deshalb empfahl ihr Zeichenlehrer den Eltern, dass sie ihre Tochter auf die Königliche Akademie der bildenden Künste in Stuttgart schicken. Von ihrem Vater erhielt sie die Erlaubnis zur damals für eine Frau ungewöhnlichen künstlerischen Ausbildung. 1908 begann sie ihr Studium an der Stuttgarter Kunstakademie, wo sie unter anderem Schülerin von Adolf Hölzel war.

Ungewöhnlich verlief ihr Leben auch später. Sie verkörperte das neue Bild der unabhängigen Frau der 20er Jahre. In Stuttgart richtete sie sich ein Atelier ein und bereiste ganz Europa mit ihrem jüdischen Freund Hermann Dreifus, der sich 1941 das Leben nahm, um der Deportation zu entgehen. Nach dem Krieg zog sie mit ihrem Bruder Karl ins Bottwartal. Mit ihren Porträts und Stillleben traf sie den Nerv der 50er und 60er Jahre und konnte so mit ihrer Kunst ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Landschaftsgemälde von Luise Deicher
Landschaftsgemälde von Luise Deicher

Virtueller Ausstellungsrundgang

Eine Ausstellung in ihrer Heimatstadt Waiblingen stellt die künstlerische Verarbeitung ihrer vielen Reisen in ihrem Skizzenbuch in den Mittelpunkt. Im Großformat zu sehen ist zum Beispiel der Hafen von Soller. Die Skizze arbeitete sie später zum Wandbild aus. In Barcelona hat sie eine Palmenallee festgehalten.

Durch die faszinierende Sonderausstellung zu Luise Deicher ist ein virtueller Rundgang möglich (www.waiblingen.de/haus-der-stadtgeschichte). Wer dadurch angeregt worden ist, mehr über das Schaffen von Künstlerinnen zu erfahren, der ist in Berlin an der richtigen Stelle. Dort hat sich „Das verborgene Museum“ zur Aufgabe gemacht, das künstlerische Werk von Frauen zu präsentieren. Doch wegen der Coronakrise musste auch dieses Museum vorerst schließen. Eine andere bekannte Schülerin von Hölzel ist übrigens Ida Kerkovius, die mit Deicher in einem Malerinnenverein in Stuttgart war. Wer im Internet stöbert, findet Informationen dazu. Die Coronakrise hat deutlich gemacht, wie viele Möglichkeiten es gibt, virtuelle Entdeckungsreisen zu machen.

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