Ein kritischer Blick auf Lebensmittel-Tafeln Wie die Tafeln die Versäumnisse der Sozialpolitik stützen

Vergangenes Jahr wurden die Tafeln in Deutschland 25 Jahre alt. Dieses Jubiläum kann jedoch kein Grund zum Feiern sein. Es sollte vielmehr als Indikator für die sich stetig ausbreitende Armut in unserer Gesellschaft gesehen werden.

Was als kleine Basisinitiative für obdachlose Menschen begann, hat sich mittlerweile zu einer bundes- und weltweiten Tafelbewegung entfaltet, die in Deutschland täglich mehr als 1,5 Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt. Es muss den Tafeln in jedem Fall zugestanden werden, dass sie die existenziellen Notlagen der einzelnen von Armut betroffenen Menschen lindern. Allerdings können sie dabei die Ursachen dieser Armut nicht bekämpfen. Tafeln können somit weder das strukturelle Problem der wachsenden Armut lösen, noch die fortschreitende soziale Ungerechtigkeit beheben. Die Tafeln sind dabei ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil sie erstens ein Indikator für Armut sind und zweitens anzeigen, was Menschen in Notlagen von der Gesellschaft zugestanden wird. Daran, wie eine Gesellschaft mit armen Menschen umgeht, ist zu erkennen, wie „human, sozial und demokratisch“ sie tatsächlich ist (siehe Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Ffm. 2009, S. 15).

Mit der steigenden Anzahl an Tafeln tritt anstelle von rechtlich gesicherten Ansprüchen im Sozialleistungssystem ein Almosensystem, welches immer professioneller wird und für die Versäumnisse der Sozialpolitik einspringt. Dieses System beruht auf privater Wohltätigkeit einzelner Menschen und ist damit immer von Willkür begleitet: Die betroffenen Menschen sind vom subjektiven Hilfewillen anderer Gesellschaftsmitglieder und von den Lebensmitteln, die die Gesellschaft nicht mehr haben will, abhängig. Zugespitzt formuliert: Ein solches Almosensystem untergräbt einen hart erkämpften Sozialstaat und katapultiert die moderne Gesellschaft zurück in die Zeit der Armenspeisungen des 19. Jahrhunderts.

Dieses System, das mit den Vorstellungen eines gerechten Sozialstaates nicht mehr viel zu tun hat, ist darüber hinaus alles andere als verlässlich. Gleichzeitig verschleiern Tafeln das Ausmaß der Armut, weil sie über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der Regelsatz der Sozialleistungen nicht ausreicht. Dass Menschen bei den Jobcentern mit dem Verweis „Dann gehen Sie doch zur Tafel!“ sanktioniert oder ganz abgewiesen werden, ist zunehmende Praxis. Dabei ist eine steigende Nachfrage nach Tafelangeboten ein deutliches Indiz für existenzielle Notlagen und damit dafür, dass die Höhe der Sozialleistungen nicht ausreicht.

Scham und Stigmatisierung

Die Tafel nimmt für von Armut betroffenen Menschen eine hohe Bedeutung bei der Linderung von existenziellen Notlagen ein. Die im Rahmen meiner Masterthesis Interviewten berichteten, dass die Inanspruchnahme einer Tafel sie Überwindung kostet und dies mit einem hohen Maße an Schamgefühlen verbunden ist. Die Tafel bedeutet für die Nutzenden, „betteln“ zu gehen, auf der „untersten“ Stufe der Gesellschaft angekommen zu sein und dies in aller Öffentlichkeit zur Schau stellen zu müssen.

„Es ist ne Entwertung, also für das Selbstwertgefühl der Menschen. Das hat ja was mit Scham zu tun, diese ganze Situation“ (Tafelnutzerin).

Ein zweiter Hauptaspekt in der Bedeutung der Tafelnutzung ist, dass die Menschen von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen sind. Aus den Interviews mit Nutzenden lässt sich ablesen, dass diese grundsätzlich mit der Unterstellung konfrontiert sind, sie übernähmen zu wenig Eigenverantwortung, zeigten zu wenig Aktivität; insbesondere fehle ihnen ein angemessener Arbeitsethos. Dieser beinhalte eine mangelnde Leistungsbereitschaft und zu wenig Durchhaltevermögen. Tafelnutzende stehen unter Verdacht, mit ihrem Einkommen nicht haushalten zu können und verschwenderisch zu sein. Dahinter steht die Annahme, dass der berechnete Regelsatz des Arbeitslosengelds II eigentlich ausreichen müsse. Dadurch wird Tafelnutzenden unterstellt, sie würden sich doppelt an der Gesellschaft bereichern: Durch Sozialleistungen und zusätzlich durch die Tafelnutzung. In dem Zusammenhang wird ihnen die Tafelnutzung auch als „Schmarotzertum“ ausgelegt und sie sind mit der Skepsis konfrontiert, das Tafelangebot nicht verdient zu haben bzw. unberechtigt zu nutzen.

Die Nutzung einer Tafel wird von der Gesellschaft also nicht als Zwangslage, sondern als „neue soziale Hängematte“ interpretiert. In einer Gesellschaft, die sich als wohlhabend und leistungsstark versteht, bedeutet Armut eine negative Normabweichung. Dies stößt auf Unverständnis und wird als persönliches Versagen gewertet. Die Tafelnutzung bedeutet Anerkennungsverlust und gesellschaftliche Desintegration. Die Beschämungs- und Missachtungserfahrungen stellen eine emotionale Belastung dar, bedrohen die Identität und beschädigen das eigene Selbstbild. Die Menschen verlieren sowohl an gesellschaftlicher als auch an Selbstachtung.

Tafeln müssen das Armutsproblem stärker skandalisieren

Von Politik, Medien und Wirtschaft werden Tafeln immer wieder als herausragendes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement gelobt und hervorgehoben. Die Kehrseite dieser „Mitleidsökonomie“ wird dabei selten thematisiert: Tafeln springen seit Jahren für die Versäumnisse der Sozialpolitik ein. Dabei werden von Armut betroffene Menschen auf niedrigstem Niveau befriedet und beschämt. Obwohl Armut immer weiter um sich greift, bleibt sie dabei ein privates Problem in der Verantwortung Einzelner und wird in der Öffentlichkeit nicht skandalisiert.

Damit tragen Tafeln sogar noch zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei, die die fortschreitende soziale Spaltung hervorbringen. Die Tafeln könnten als diskursmächtiger und gesellschaftlich hochanerkannter Akteur viel vehementer auf diesen Zusammenhang aufmerksam machen und fordern, dass der Sozialstaat endlich die Verantwortung übernehmen muss, um die wachsende Armut nachhaltig zu bekämpfen, anstatt sich auf die Tafeln zu verlassen.

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