Kurzformeln des Glaubens Eine Einführung in reformatorische Theologie

Die Reformation in zehn Schlagworte bündeln: Das geht, wenn man bereit ist, von da immer noch ein wenig weiter zu lesen und zu lernen. Sie erschließen ihre Theologie und die weitverzweigtesten Denkhorizonte.

Die Reformatoren bieten immer wieder kurze formelhafte Sätze als theologische Zusammenfassung an; einige sind hier gesammelt. Um die Brücke in die Gegenwart zu schlagen, werden dazu noch weitere Linien in die anschließenden Jahrhunderte gezogen. Etwa zu Albert Schweitzer, Johann Georg Hamann – oder zum Liederdichter Philipp Spitta: ein zeitweiliger Weggefährte Heines, der mitten im rastlosen 19. Jahrhundert Reime verfasste von Hort, Wort und Verlässlichkeit.

Gott: Backofen voll Liebe

„Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe“, schrieb Martin Luther 1522. Ein Kernsatz der Reformation: Dass der Schöpfer sein Geschöpf aus Liebe geschaffen hat, in Liebe täglich erhält, und liebevoll vollendet – das lehren die Kirchen der Reformation denn schon im kleinen Kinder-Katechismus. Mit einem Satz wie Gott hat mich erschaffen ist alles eigentlich gesagt. Wie könnte ein liebender Schöpfer sein Werk verloren geben … Gott ist Liebe, fasst das Neue Testament diesen alten Glaubenssatz in eine Formel (1. Joh 4,16). Liebe aber überwindet alles. Der wärmende Backofen „reichet von der Erde bis in den Himmel“, komplettiert Luther seinen Satz.

Erfahrung macht zum Theologen

Dass ich alles, was ich habe, als grundloses Geschenk empfangen habe, die „Gen-Ausstattung“ und meine Fähigkeiten; meine Lebenszeit… Das sind Erkenntnisse und Erfahrungen, die oft nach und nach in einem Menschen reifen. Manche theologische Allgemein-Wahrheiten wirken lange erst wie fahle Allgemeinplätze, bis sie erfahrungsgesättigte Gestalt in einem Leben annehmen. „Nur die Erfahrung macht den Theologen“, sagt dazu die reformatorische Überlieferung (Sola experientia facit theologum, WA TR 1, 16,13). Die berühmte Formel wurde später vielfach aufgenommen, hat immer wieder zur eigenen Glaubenserfahrung Mut gemacht.

Woran dein Herz hängt, das ist dein Gott

Religions-analytische Einsichten gewährt die Bestimmung im Großen Katechismus: Woran du nun dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott. Tatsächlich, es lässt sich präzise ausweisen, soziologisch und psychologisch, religionstheoretisch: Das individuell persönliche Zu-Trauen und Glauben entscheidet jeweils, wer oder was in einem Leben, in einer Gesellschaft Gott bzw. einen Abgott darstellt. Daseinsbestimmend und in der Praxis annähernd Gott-gleich können zuletzt so verschiedene Größen sein wie Ruhm, Ansehen, Karriere, Vermögen, Lebensleistung, Lebensbilanz, und viele mehr. Für die in beinah religiöser Qualität auch einiges „geopfert“ wird… So stimmt die reformatorische Grunderkenntnis: Wo das richtige Vertrauen ist, da ist auch der richtige Gott. Wo Vertrauen aber sich auf Falsches bezieht, kann auch (der richtige) Gott nicht sein.

Der Geist ist’s, der lebendig macht

Sie wenden vielleicht ein: Das sei gar kein originär reformatorischer Satz, das steht so in der Bibel (Joh 6,63). Stimmt! Es passt jedoch sehr gut – auch um zu zeigen, dass die Reformation ja überhaupt nichts anderes sagen oder lehren will, als eben in den Schriften Alten und Neuen Testamentes steht. Dass dabei nicht genügt, Sätze nachzuleiern; sondern: es um ein inneres Verstehen und ein Eigene-Erfahrung-mit-dem-Gesagten-machen geht, war schon gesagt. (Nur eigene Geist-Erfahrung macht zum Theologen; allein der ursprüngliche Geist ist es, der eine Rede mit authentischem Leben füllt.) Wenn Albert Schweitzer und andere freiheitlich denkende Theologen später davon schreiben, dass Gottes Reich oder der Glaube zuallererst im Menschen entsteht, Platz greift und von da aus weitere Kreise zieht (evangelische aspekte 4/2023): dann ist das eine Wiederentdeckung originär reformatorischer Einsichten (vgl. Lk 17,21).

Lebeworte nicht Leseworte

Dasselbe meint Martin Luther, wenn er sagt, dass in der Bibel nicht Leseworte, sondern Lebeworte zu finden sind (s. WA 31 I, 67ff). Es sind die biblischen Geschichten, Psalmen, Jesu Gleichnisse oder kurze Worte, die den Glauben schaffen (Röm 10,17); aus denen der Glaube immer wieder schöpft und die das Glaubensleben lebendig halten!

Diese Autorität der schriftlichen Quellen ist in Konsequenz dann auch für die Glaubensinhalte entscheidend: Es sind die überlieferten biblischen Zeugnisse, die Glaubensartikel aufstellen, und sonst nichts – halten feierlich die Konkordienformel von 1577 sowie das Konkordienbuch von 1580 fest. Das Konkordienbuch (das in mancher Hinsicht in der 2./3. Generation als ein Abschluss lutherischer Konfessionsbildung gilt, und, in Ansätzen, einen Übergang zu einer später auch teils formelhaft-erstarrten Luther-Rezeption markiert), verträgt sich darin gut und organisch zu reformiert geprägten Bekenntnistexten. Die immer von sich bezeugen, dass sie dem biblischen Zeugnis gegenüber nachrangig sind. Dieses nicht ersetzen wollen – und dass in kriteriologischer Sicht nur eben jene biblischen Lebeworte ausschlaggebend sind.

Deshalb bleibt innerkirchlich der biblische Text der lebendige Bezugspunkt. Der vollauf genügt, auch bei ökumenischen oder Glaubens-vergegenwärtigenden Bemühungen. Sprich: Biblische Quellen sind in jeder Lage und jeder Streitfrage der nach vorne weisende Ausweg, ohne Umweg über Bekenntnistexte späterer Jahrhunderte.

„Reden ist übersetzen“: Den Leuten aufs Mundwerk schauen

Du willst verstanden werden? Dann lerne die Sprache derer, mit denen du dich unterhältst. Diesen Grundsatz setzte Martin Luther sich zur Leitlinie. Und dies nicht nur bei der Bibelübersetzung, sondern auch in seinen Schriften, Predigten und Briefen. Den Leuten aufs Maul sehen, heißt die Kurzformel dazu, die dann zur Redewendung wurde.

Dass man die Sprache der Leute spricht, bedeutet jedoch nicht, man müsse ihnen nach dem Munde reden! Bei der Bibelübersetzung ist das klar: Die bringt von sich aus schon so viel Neues, Fremdes, Herausforderndes und Umwälzendes für ihre Adressaten mit – dass niemand Sorge hegen muss, es wiederhole nur längst Bekanntes! Auch beim Übersetzen von Lehrinhalten in die kleine Münze alltäglichen Lebens trifft theologische Rede darauf ja ständig: auf die teils schräg und schroff entgegengesetzte Realität der jeweiligen Lebenswirklichkeiten… Reden ist (eigentlich immer) übersetzen, meinte dazu im 18. Jahrhundert der Literat, Sprachphilosoph und Königsberger Publizist Johann Georg Hamann.

Er ist ein Fels, er ist ein Hort

Das lebendig übersetzte Bibelwort konstatiert nicht etwas, das (sowieso) schon in der jeweiligen Zeit und Gegenwart vorhanden ist: Es konstituiert vielmehr auf immer neue Weise einen lebendigen Bezug zum ursprünglichen Gotteswort. Davon wusste auf seine Weise der Theologe und Liedermacher Philipp Spitta, wenn er im quirligen 19. Jahrhundert von Quellen der Stabilität und der Verlässlichkeit singt und singen lässt. Er ist hier stellvertretend für die unzähligen Liederschreiber genannt: Von G. Neumark bis C.F. Gellert, die jeweils für ihre Gegenwart gelebte Glaubenserfahrung, Glaubensgewissheit, Glaubensfreude und das Gotteslob in Verse gossen (EG 374; EG 319). „Zu dir, zu dir ruft Mensch und Tier. Der Vogel dir singt. Das Fischlein dir springt. Die Biene dir summt. Der Käfer dir brummt. Auch pfeifet dir das Mäuselein: Herr Gott, du sollst gelobet sein“ (EG 509).

Mit der Trias von Bibel, Gesangbuch und Katechismus steigt man immer am besten ein, will man die Hauptaussagen der Reformationszeit kennenlernen.

Sine vi, sed verbo

In dem für die Reformation verfassungs-rechtlich äußerst wirkungs- und bedeutungsvollen Text der Confessio Augustana stellte Philipp Melanchthon eine wichtige Maxime auf: Kirchenobere und Bischöfe sollen wohl über das hohe Glaubensgut wachen, dies jedoch: ohne Gewalt, alleine mit dem Wort (lat.: sine vi humana, sed verbo). Kein Zwang in Glaubensdingen, ist ein eherner Grundsatz der Reformation, der schon seit den 1520er Jahren um Anerkennung und Durchsetzung auf religionspolitischer Ebene ringt.

Glaube und Liebe, das ist die Summa

Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Gott und im Nächsten, schreibt Luther 1520: In Gott durch den Glauben und in seinem Nächsten durch die Liebe. „Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe, und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe“. Glaube und Liebe sind die Kurzfassung eines Christenlebens. Auch in der biblisch-katechetischen Unterweisung des Reformators Johann Brenz dient das Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37-40) als Abschluss und Zusammenfassung der Zehn Gebote.

Die verschiedenen Lehrstücke der Theologie betreffend – etwa die Schöpfungstheologie, die Lehre von den Gnadenmitteln (auf welche Weise erfährt der Mensch von Gottes Zuwendung und seiner bleibenden Barmherzigkeit) oder in der Lehre von den letzten Dingen (die Weltvollendung) – wurde immer wieder eingefordert, dieser Grundmelodie von Glaubenszuversicht und Liebe als Summa stets das gebührende Gewicht zukommen zu lassen. Das glückte in den verschiedenen Theologie-Entwürfen, Kirchenverfassungen, Anpassungsversuchen mal besser und auch manchmal nicht so gut. Eine immer neue Aufgabe.

Jeder Mensch ist Theologe

Angesichts überlieferter Glaubenszeugnisse und Kirchen-Sätze, auch angesichts nicht-theologischer oder betont nicht-christlicher Weltprägungen ist jeder Mensch vor die Frage gestellt: Wo finde ich mich darin wieder, wer bin ich oder soll ich sein angesichts dieser Setzungen, Infragestellungen und Perspektiven? So wird jeder Mensch zum Theologen („Wir nennen jeden einen Theologen“; WA 41, 11,9ff), der sich und anderen darüber Rechenschaft abgibt, warum er so oder so (für sich) urteilt, sein Leben führt und in welcher Weise er oder sie am Ende auf den eigenen Lebensweg zurückblicken will (und muss). Diese von jedem Menschen bewusst oder unbewusst vorgenommene theologische Wertung wird vermutlich, wie jeder theologische Satz, im Lauf der Zeit auch immer wieder einmal unterschiedliche Formung und Gewichtungen erhalten. Wichtig in reformatorischer Sicht: Dass jene Grundmelodie von Glaube und Liebe sowie die geistvoll belebenden biblischen Lebeworte die maßgebliche Bezugsquelle sind und bleiben.

Und vieles mehr… Man lernt nie aus

Von der Angst zum Vertrauen; Leben aus der Gnade und dem Erbarmen Gottes … es gibt eine Fülle kurzer Formeln, auf welche man die Reformation schon zu bringen suchte. Natürlich gibt es noch viele weitere als diese zehn, und zahlreiche Prägnanz versprechende Charakterisierungen mehr, die auf Typisches, Entscheidendes oder Wichtiges aufmerksam machen wollen. Wie: die spannungsvolle Einheit von forderndem Gesetz und Freiheit schenkendem Evangelium oder die Einsicht Luthers: theologia … numquam potest edisci (Theologie … kann man niemals auslernen; WA 40 III,63,17f).

Reformatorische Theologie ist (wie der Gegenstand, von dem sie handelt: die Gottesoffenbarung) zwar in sich komplett und abgeschlossen. Doch lernt der (endliche) Mensch an ihr nie aus. Unausschöpflich ist sie für uns, die wir noch auf dem Wege sind – dies selbst für erfahrenste Theologen: eine immer neue, frische Quelle der immerwährenden Erneuerung.

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