Luther verstehen Ein Aggiornamento aus biblischer Sicht

Das Heutige der Reformation wird immer wieder unterschätzt: Luther ist als Bibelausleger zeitlos relevant, bleibend am Puls der Zeit.

„Die Menschenwürde ist unantastbar.“ – „Unsere Würde wird uns geschenkt; sie ist weder eingefordert noch verdient.“ Zwei Sätze zum heutigen Menschenbild, beide zeigen wie aktuell die biblische Rechtfertigungs- und Schöpfungstheologie ist. Denn: Die Würde gilt unbedingt. Bedingungslos! Sie ist nicht geleistet, noch erworben. Nach dem Schöpfungsbericht der Bibel fällt diese Bestimmung jedem Menschen zu.

Eine solche Bestimmung (ihr „Logos“) kann Menschen dankbar leben lassen; eine das Sichtbare transzendierende Sinnzusage. Luther als Vertreter dieses Menschenbildes wirkt mal als Verfechter von Gewissen und Vernunft (1521 in Worms), mal als Übersetzungskünstler (1522 auf der Wartburg).

Ein Ökumeniker: Luther der Bibelexperte

Weil Luthers Theologie biblisch begründet ist, bleibt sie durch die Jahrhunderte ergiebig, anregend für das theologische Denken jeder Zeit, auch unsere. Luther ist zuerst, was man heute einen Bibel-Experten nennen würde: Er übersetzt das Neue Testament (aus dem Griechischen, auch dem Lateinischen der Vulgata), übersetzt den Tanach (aus dem Hebräischen, auch Aramäischen, Lateinischen, Griechischen). Ganze Passagen kennt und zitiert er auswendig. Er ist vielseitiger Exeget (Auslegungen zu Genesis, Galaterbrief, Psalmen…). Er predigt über diese Schriften, oft mehrmals die Woche.

Dem Schriftausleger geht es zeitlebens um Verheutigung, um ein Aggiornamento des biblischen Textes für die Adressaten. Es stimmt für Luthers Bibelanwendung im Besonderen, was Dietrich Bonhoeffer im Allgemeinen über die Wirkung auf Verweltlichung der Kirche und klerikale Sonderleistung sagte: „Als Gott durch seinen Knecht Martin Luther in der Reformation das Evangelium“ neu erweckte, führte er ihn aus dem Bereich religiöser „Sonderleistungen“ heraus (D. Bonhoeffer, Nachfolge). Nun traf das Wort mit voller Wucht: Das Befreiende wie Verpflichtende galt es nun „mitten in der Welt“ zu hören.

Luther für Katholiken

Luther war Katholik – die Kirche der Gegenwart ist indes natürlich nicht mehr dieselbe wie im 15. oder im 8. Jahrhundert. Der katholische Kirchenbegriff ist nicht statisch, er unterliegt erklärtermaßen der Entwicklung („Schrift und Auslegung“). Selbst die Sicht auf einzelne Gestalten bleibt fluid. Konstellationen wechseln, Denkmuster drehen sich; siehe Galiläo Galilei.

Und so wenig die Art und Weise, in der das Jubiläumsgedenken der Reformation 2017 begangen wurde, die einzig denkbare scheint, war es doch eine mögliche, und sehr bemerkenswert. Das betont Ökumenische, das Begehen in geschwisterlicher Verbundenheit (statt in gesuchter Konfrontation), war schon in sich ein Ergebnis und galt vielen das erfreuliche Hauptmoment des 500-Jahr-Gedenkens. Evangelischerseits wurde das Jahr bewusst nicht angelegt in einer Luther-Überhöhung: Es wurde eher die kleine, mittelgroße Lutherfigur des Künstlers Ottmar Hörl („gerade noch unter den Arm zu klemmen“) zu einem der Symbole von 2017, denn monumentale Inanspruchnahmen, Gemälde oder Statuen.

Theologie des Tanach

Weil der biblische Tanach die Menschenwürde jedem Menschen zuspricht (Du bist Gottes Ebenbild! Genesis 1,27), wäre es nur menschlich, dass jeder entsprechend lebt. Grundlos und frei ins Leben gerufen; voraussetzungslos das Licht der Welt erblickt. Von diesem Wort erfüllt, die Lebenszeit absolvierend.

Alles, was Du bist und hast, ist – von Gott – empfangen. So heißt es in den Schöpfungspsalmen: „Herr, mein Gott, überaus groß bist du… Du spannst den Himmel aus gleich einem Zelt…“ (Ps 104; vgl. Ps 33). „Mein Gott! Die Seele, die du mir rein gegeben, du hast sie geschaffen, du hast sie gebildet, du hast sie mir eingehaucht, und du hütest sie in mir“ (jüd. Morgengebet). Darum: „Wer sich einer Sache rühmt, der rühme sich seines Schöpfers.“

Um seinetwillen so gesetzt.

Und ist nicht dies das Leben der Erzeltern, angefangen vom Glaubensleben des Abraham, über Isaak, Jakob und Lea bis hin zu Josef in Ägypten (im Buch Genesis)? Und so spricht David in seinen besten Tagen (1Chr 29,10-18), so Salomo. In einer Theologie der Psalmen lässt sich dieser existenziell-lebensnahe, erfahrungsgesättigte Glaube als Grundtypologie biblischer Anthropologie beschreiben. Wie Luther notiert: „Daher kommt es auch, dass… jeder,“ „in was für Sachen er auch ist, Psalmen und Worte darin findet, die sich auf seine Sachen reimen und ihm so angemessen sind, als wären sie allein um seinetwillen so gesetzt, wie er selbst sie nicht besser setzen, finden oder wünschen könnte.“ (2. Vorrede zum Psalter, 1528) Die Psalmen bieten so treffliche Worte der Freude wie der Traurigkeit, von Hoffnung oder Furcht, „dass dir kein Maler so könnte die Furcht oder Hoffnung abmalen und kein Cicero oder Redekundiger so vorbilden.“ In ihrer variablen Form der Rede und Inhalte, aus der Geschichte des Gottesvolks, zu allerlei Situationen, Anlässen und Themen bieten sie so etwas wie ein Kompendium und kurzen Auszug, so dass der Psalter „wohl eine kleine Bibel heißen könnte, in der alles aufs Schönste und Kürzeste, was in der ganzen Bibel steht, zusammengefasst und zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht und aufbereitet ist.“

Frohbotschaft statt Drohbotschaft

Worte sind wie eine Herberge! Manche Worte wohnen selbst in uns, sagt Luther, sprechen zu passender Zeit vom Elementaren, vom jetzt Richtigen und Wichtigen, weisen eine Richtung („Sinn“). Offenbar liegt gerade an ihrer Viel-Gestaltigkeit, dass die Bibeltexte durch alle Zeiten, erst recht in der Post- und Spätmoderne, als eine ansprechende, aus sich heraus sprechende Großerzählung vernommen werden. Kinder z.B. lieben gerade die Geschichten des Tanach („weil da so viel passiert“), Luther redet von der göttlichen „Äneis“: Man wandert mit Mose und Elia durch die Wüste, sitzt mit den Gottesleuten in den Kerkern ihrer Zeit, freut sich wie ein Kesselflicker am Erfolg des Jona und zieht wonnestrahlend mit ein in das verheißene, versprochene Reich der himmlisch-glänzenden Stadt. Es ist gerade das viel-seitige Bibel-Buch, das den vielseitigen Erfahrungs-Welten jeder Zeit gewachsen bleibt.

Mit der Übersetzung auf der Wartburg überträgt der Bibelexperte diese Worte mitten in seine Zeit. Und die Wiederentdeckung der Schrift löst Klärungsprozesse aus. Die Absurdität, Kirchenablass oder Vergebung zu verhökern, scheint denn doch zu offensichtlich… Der Papst (Pius V.) selbst räumt dies 1569 ein und untersagt Ablassverkauf bei schärfsten Strafen. Luther stritt also 1517 für eine heute gültige – wahrlich selbstverständliche – katholische Wahrheit; ja, hat diese kirchenhistorisch erstritten und gültig durchgesetzt. Luther in der Tat ein ökumenischer Kirchenvater (Walter Kasper).

Sinnigerweise zählt eine der Kardinalstellen für Luthers exegetische Entdeckungen, Röm 1,17, als Beleg, mit dem Paulus das Evangelium dem biblischen Tanach gemäß nachweist: Für den Satz „der aus Glauben Gerechte wird leben“ nutzt der Apostel ein Tanach-Zitat („wie geschrieben steht“, Habakuk 2,4). Die Kernstelle der reformatorischen Entdeckung bezeugt die beanspruchte Tanach-Frömmigkeit des Paulus. Viele Ausleger sehen heute „Paulus innerhalb des Judentums“ (so Paula Frederikson). Dass 1,17 nicht nur das Gerechtigkeits-Verständnis des Römerbriefs ist (Röm 4,5), sondern auch des Galaterbriefes (2,16), des Epheserbriefes (Eph 2,8), des Titus-Briefes (3,4f) u.a.m., ebenso des Johannes und der Evangelien, wie schon der Psalmen, s.o., hatten die Reformatoren ausführlich vorgeführt. Dass (nur) eben dies dem Schöpfungswort bedingungslos geschenkter Würde gemäß ist, leuchtet ein. Und dass hierin aus heutiger Sicht eine lutherisch-katholische Übereinstimmung in vielen Grundwahrheiten besteht, wurde zuletzt (z.B. 1999) auch lehramtlich verbindlich festgestellt.

Friedliche Reformation

Entlang dem biblischen Menschenbild formulierten die Wittenberger ihre Vorschläge. Dass es friedliche Möglichkeiten ihrer Umsetzung gab, zeigt die von Luther publizistisch vorangetriebene Ordnung kommunaler Sozialkassen, modellhaft in der Leisniger Ordnung, die manche das erste Sozialpapier der Neuzeit nennen. Die Bürgerkasse, 1520 von Luther angeregt, 1521/22 in Wittenberg eingeführt, vergibt Stipendien für mittellose Familien, regelt die Versorgung von Witwen und Waisen, Schulunterricht, und organisiert weitere kommunale Investitionsvorhaben (vgl. Luthers Pazifismus, evangelische aspekte 4/2022). Für Hamburg soll sie einer der Hauptgründe gewesen sein, zur Reformation überzugehen. Nach der von Luther 1523 vorgestellten Musterordnung sind für die Verwaltung der Kasse zuständig: Bauern, Bürger, Stadtbewohner. Wohlgemerkt: Ohne Beteiligung der Geistlichkeit. Die Musterordnung erscheint noch 1523 in acht Auflagen. Die Landesherren reagieren jedoch alles andere als begeistert. Mehrfach muss sich Luther dafür einsetzen. Bürgerkassen und Äquivalente wurden eingeführt z.B. 1523/29 (Leisnig), 1523 (Straßburg), 1524 (Magdeburg), 1524 (Windsheim), 1525 (Stralsund), 1526/29 (Hamburg), 1531 (Lübeck).

Gewissensfreiheit und Vernunft

In der reformatorischen Anerkennung zugesagter Menschenwürde, als „Kind und König in Personalunion“ (Oswald Bayer, vgl. die Rezension auf S. 42), die Luther aus den Psalmen (z.B. Ps.-Vorlesungen) und weiteren biblischen Schriften aufgegangen war, wurzelte zugleich seine eigentümliche Freiheit zum Wort, die er z.B. in Worms 1521 unter Beweis stellte. Solange das exegetisch Vorgetragene nicht durch „Zeugnis der Schrift“ oder „klare Vernunftgründe“ widerlegt wäre, könne und wolle er dies auch „nicht widerrufen … wider das Gewissen“ (WA 7, 838). Er war bereit, dafür auch verbannt zu werden.

Luther als Anwalt frühmoderner Rechtsentwicklung

Wie aber stand es um das Gewissen bei der Forderung nach Menschenrechten 1524/25, als sich die Bauern auf den Bibeltext beriefen? In der Bauern- und Bürgerkriegs-Frage war für die Reformation zu klären, von einem übergeordneten Standpunkt aus: (Wie) lässt sich das (lange eingebürgerte) Fehde-Unwesen, das Faustrecht, überwinden und die friedliche Beilegung von Streitigkeiten etablieren? Der „Ewige Landfrieden“ von 1495 hatte versucht, die ewigen Kleinkriege selbst zwischen kleinsten Grafen, Parteien, Gruppen zu stoppen. Und an deren Stelle eine verrechtlichte Konfliktbewältigung zu setzen. Gemäß Verfügung des Kaisers (Maximilian I.) soll und darf im gesamten Reich hinfort niemand, von welchen „Würden, Stands oder Wesens“ auch immer, die anderen „befechten, bekriegen, berauben…“ (Ewiger Landfrieden, § 1). Ein wichtiger Schritt der Rechtsentwicklung. Eine Vorstufe zum staatlichen Gewaltmonopol. Reichsrechtlich gültig setzt § 4 die Verpflichtung, jeden des Friedbruches Verdächtigen anzuzeigen, zu stellen, ihm zu wehren und diesen der Reichsacht Verfallenen zu richten. Wer dies nicht befolgt, verliert selber seine Rechte. Die aufständischen Bauern mussten – unbesehen wie zustimmungsfähig, innovativ oder bahnbrechend die Forderungen waren – als Landfriedensbrecher gelten. Luther bot sich zur Vermittlung an; gegenüber aufwiegelnden Stimmen, und mit Hinweis auf die biblische Weisheit „Wer zum Schwert greift, kann um so leichter dadurch umkommen“, ist aber die durchgehende Absicht und Zielsetzung der Rechtssicherung, Schutz der einfachen Bevölkerung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Luthers Äußerungen erkennbar.

Luther hat mit seiner friedlichen Reformation einen gangbaren Weg gewiesen, Bauern- und Bürgerrechte erfolgreich durchzusetzen. Luther war definitiv ein „Katalysator“ für Veränderung (Mischa Kuball) – dies aus biblisch gewonnenen Einsichten heraus, die Entwicklung frühmoderner Rechtlichkeit schützend sowie fördernd und gerade so ein Anwalt von Gewissensfreiheit, Redefreiheit, generell gesagt als („Parrhesia“): Freiheit zum (biblischen) Wort.

Eine stark erweiterte Fassung dieses Beitrags, die nur online erschienen ist, findet sich hier.

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