Luther (mehr) verstehen Ein Aggiornamento aus biblischer Sicht (erweiterte Fassung)

Das Heutige der Reformation wird immer wieder unterschätzt: Luther ist gerade als Bibelausleger zeitlos relevant, bleibend am Puls der Zeit.

„Die Menschenwürde ist unantastbar.“ – „Unsere Würde wird uns geschenkt; sie ist weder eingefordert noch verdient.“ Zwei Sätze zum heutigen Menschenbild, beide zeigen wie aktuell die biblische Rechtfertigungs- und Schöpfungstheologie ist. Denn: Die Würde gilt unbedingt. Bedingungslos! Sie ist nicht geleistet, noch erworben. Nach dem Schöpfungsbericht der Bibel fällt diese Bestimmung jedem Menschen zu.

Eine solche Bestimmung (ihr „Logos“) kann Menschen dankbar leben lassen; eine das Sichtbare transzendierende Sinnzusage. Luther als Vertreter dieses Menschenbildes wirkt mal als Verfechter von Gewissen und Vernunft (1521 in Worms), mal als Übersetzungskünstler (1522 auf der Wartburg). Luther war es ernst. Sein Anliegen war, aus dem Geist der Schrift seine Zeit und die Kirche zu gestalten.

Ein Ökumeniker: Luther der Bibelexperte

Weil Luthers Theologie biblisch begründet ist, bleibt sie durch die Jahrhunderte ergiebig, anregend für das theologische Denken jeder Zeit, auch unsere. Luther ist zuerst, was man heute einen Bibel-Experten nennen würde: Er übersetzt das Neue Testament (aus dem Griechischen, auch dem Lateinischen der Vulgata), übersetzt den Tanach (aus dem Hebräischen, auch Aramäischen, Lateinischen, Griechischen). Ganze Passagen kennt und zitiert er auswendig. Er ist vielseitiger Exeget (Auslegungen zu Genesis, Galaterbrief, Psalmen…). Nicht zuletzt: Er predigt über diese Schriften, oft mehrmals die Woche.

Dem Schriftausleger geht es zeitlebens um Verheutigung, um ein Aggiornamento des biblischen Textes für die Adressaten. Es stimmt für Luthers Bibelanwendung im Besonderen, was Dietrich Bonhoeffer im Allgemeinen über die Wirkung auf Verweltlichung der Kirche und klerikale Sonderleistung sagte: „Als Gott durch seinen Knecht Martin Luther in der Reformation das Evangelium“ neu erweckte, führte er ihn aus dem Bereich religiöser „Sonderleistungen“ heraus (D. Bonhoeffer, Nachfolge). Luthers Rückholung der Schrift aus den Sonderbereichen klerikaler Zirkel zurück in den Lebensalltag der Menschen „bedeutete den schärfsten Angriff, der seit dem Urchristentum“ auf kirchliche Schriftvergessenheit geführt wurde. Nun traf das Wort mit voller Wucht: Das Befreiende wie Verpflichtende galt es nun „mitten in der Welt“ zu hören.

Wider die Schriftvergessenheit

Dabei bleibt Luther zeitlebens „dran“ an der Übersetzung, immer bereit zu Verbesserungen und Korrekturen. Von der Fertigstellung des NT 1522 bis zur Bibelübersetzung letzter Hand 1545 sehen wir den Schriftübersetzer im Ringen um die bestmögliche Wiedergabe des biblischen Buchstabens im den Sinn treffenden Geist. Die Schrift entbirgt den Geist; der Geist entspringt dem Wort. Entsprechend galt es, sich mit dem Geist der Zeit auseinanderzusetzen, wie etwa der zeitgenössischen Mystik, dem entstehenden Frühkapitalismus, zentralisierenden Tendenzen in der Kirche – was vielfältige Folgen hatte.

Die Rede von Reform

Tatsächlich ist es ist ja so, dass der Bibeltheologe mit den Reform-Anfragen keineswegs alleine war. Luther war in keiner Weise der erste, der den Reformbedarf in der Kirche erkannt und angemeldet hätte. Seit Jahrzehnten war eine „Reform an Haupt und Gliedern“ Dauerthema. Es gab die seit 1456/58 routinemäßig vorgebrachten Gravamina, gesammelte Beschwerden. Und die Einberufung von Reformkonzilen war jahrhundertelang gang und gäbe – oft aber ergebnislos.

Luther für Katholiken

Luther war Katholik – die Kirche der Gegenwart ist indes natürlich nicht mehr dieselbe wie im 15. oder im 8. Jahrhundert. Der katholische Kirchenbegriff ist nicht statisch, er unterliegt erklärtermaßen der Entwicklung („Schrift und Auslegung“; lebendige Tradition steht nicht über dem Wort, sondern dient ihm, sie gibt schlicht weiter, was gegeben ist, lautet die Maßgabe dazu). Selbst die Sicht auf einzelne Gestalten bleibt fluid. Manche späteren Lichtgestalten sind lebens- und jahrzehntelang verachtet, bis sie doch zu Ehren kommen; Orden werden verboten, dann wieder zugelassen. Konstellationen wechseln, Denkmuster drehen sich; siehe Galiläo Galilei.

Besser gemeinsam statt getrennt

Und so wenig die Art und Weise, in der das Jubiläumsgedenken der Reformation 2017 begangen wurde, die einzig denkbare scheint, war es doch eine mögliche, und darin sehr bemerkenswert. Das betont Ökumenische, das Begehen in geschwisterlicher Verbundenheit (statt in gesuchter Konfrontation), war schon in sich ein Ergebnis und galt vielen das erfreuliche Hauptmoment des 500-Jahr-Gedenkens. Evangelischerseits wurde das Jahr bewusst nicht angelegt in einer Luther-Überhöhung: Es wurde eher die kleine, mittelgroße Lutherfigur des Künstlers Ottmar Hörl („gerade noch unter den Arm zu klemmen“) zu einem der Symbole von 2017, denn monumentale Inanspruchnahmen, Gemälde oder Statuen. Und es gibt heutzutage wahrlich genug Gründe, dass die christlichen Gemeinden besser gemeinsam, statt getrennt, auftreten.

Theologie des Tanach

Weil der biblische Tanach die Menschenwürde jedem Menschen zuspricht (Du bist Gottes Ebenbild! Genesis 1,27), wäre es nur menschlich, dass jeder entsprechend lebt. Grundlos und frei ins Leben gerufen; voraussetzungslos das Licht der Welt erblickt. Von diesem Wort erfüllt, die gegebene Lebenszeit absolvierend.

Alles, was Du bist und hast, ist – von Gott – empfangen. So heißt es in den Schöpfungspsalmen: „Herr, mein Gott, überaus groß bist du… Du spannst den Himmel aus gleich einem Zelt…“ (Ps 104; vgl. Ps 33). „Mein Gott! Die Seele, die du mir rein gegeben, du hast sie geschaffen, du hast sie gebildet, du hast sie mir eingehaucht, und du hütest sie in mir“ (jüd. Morgengebet). Darum: „Wer sich einer Sache rühmt, der rühme sich seines Schöpfers.“ (Vgl. 1Kor 1,32; Jer 9,23)

Weder „Sonderleistungen“ noch Leistungen überhaupt sind folglich relevant, wo es um die Taxierung des Menschen, von Menschlichkeit im Gesamten geht. Sondern – im Sinn der biblischen Autoren – um eine Betrachtung im Lichte des Ewigen, Lebendigen, Unendlichen und Höchsten…!

Gottsucher und existenzielle Fragen

Entsprechend dieser Anthropologie, der gesamt-biblischen Rede vom Menschen, ist die Glaubens- und Gottesfrage etwas, das jedem in gleicher Weise eigen ist: Jeden in irgend einer Weise umtreibt, angeht und – sei es auch nur undeutlich, vage und leise… – betrifft. Schon Paulus, Schüler des Schrift-Gelehrten Gamaliel und „untadelig nach der Tora“ (Phil 3,5f), rechnet damit, dass jede und jeder den allbarmherzigen, den alles durchwaltenden Gott (er)kennt bzw. erfahren kann: Ist Gott denn nur der Gott eines Volkes oder nicht vielmehr der eine Gott aller Völker?! (Röm 3,29f; mit Ps 67,4; Ps 47,10; u.ö.). Der Apostel rechnet damit, dass jeder Mensch, auch diejenigen, die vom mosaischen Gesetz oder von Heiliger Schrift bisher nichts gehört haben, „sich selbst Weisung“ sein können. Ihr Gewissen lässt sie klar genug erahnen, was richtig wäre.

Nur dass von sich aus kaum einer damit weit kommt… Eher gelingt es, wenn von außen, sei es durch Ratschläge kundiger Leute, sei es durch lebhafte Interventionen, gar „himmlische Boten“ (!?), durch mitgeteilte Weisheiten eine Hilfestellung kommt.

Und ist nicht dies das Leben der Erzeltern, angefangen vom Glaubensleben des Abraham, über Isaak, Jakob und Lea bis hin zu Josef in Ägypten (im Buch Genesis)? Und so spricht David in seinen besten Tagen (1Chr 29,10-18), so Salomo. In einer Theologie der Psalmen lässt sich dieser existenziell-lebensnahe, erfahrungsgesättigte Glaube als Grundtypologie biblischer Anthropologie beschreiben. Wie Luther notiert: „Daher kommt es auch, dass… jeder,“ „in was für Sachen er auch ist, Psalmen und Worte darin findet, die sich auf seine Sachen reimen und ihm so angemessen sind, als wären sie allein um seinetwillen so gesetzt, wie er selbst sie nicht besser setzen, finden oder wünschen könnte.“ (2. Vorrede zum Psalter, 1528) Die Psalmen bieten so treffliche Worte der Freude wie der Traurigkeit, von Hoffnung oder Furcht, „dass dir kein Maler so könnte die Furcht oder Hoffnung abmalen und kein Cicero oder Redekundiger so vorbilden.“ In ihrer variablen Form der Rede und Inhalte, aus der Geschichte des Gottesvolks, zu allerlei Situationen, Anlässen und Themen bieten sie so etwas wie ein Kompendium und kurzen Auszug, so dass der Psalter „wohl eine kleine Bibel heißen könnte, in der alles aufs Schönste und Kürzeste, was in der ganzen Bibel steht, zusammengefasst und zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht und aufbereitet ist.“

um seinetwillen so gesetzt

Wobei die Psalter-Theologie, als des in langer Zeit gereiften Gebetsbuches Israels, tatsächlich pars pro toto für die Gesamt-Theologie des Tanach weithin repräsentativ gesehen werden kann – wie auch heutige Exegeten bestätigen. Ihre Lebens-Weisheit der Geschichten, der Beispiele von „Gnade und Barmherzigkeit“ (Ps 103,8), göttlicher Sinnzusage und -erfüllung, von Güte, Abwegen und Errettung, kurz: Schuld und Vergebung (vgl. z.B. die Geschichtspsalmen) sind ein Generalthema des Tanach, von Adam und Eva bis zum Buch Daniel, auch wenn uns als Leser das immer wieder einmal unangenehm ist. Es ist zugleich der innere Kern, geradezu ein „Marken-Kern“ sämtlicher Überlieferungen im Tanach, in allen Schichten und Formen, nur hier eben besonders komprimiert im Psalter: Psalmen bieten das gesammelte Tanach-Verständnis göttlicher Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit des Höchsten.

Psalmen-Theologie

Psalmen zeigen anschaulich und exemplarisch die Suche nach Gotterkenntnis und Gottes-Schau des Gottsuchers und existentiell Fragenden: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, nach Dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? (Ps 42) Psalmen fordern Gerechtigkeit ein. Bejubeln die Schönheit der Welt. Stellen die Frage nach dem Sinn: Warum? Wozu? Bis wann? Geben aber auch Antworten: Führen im Wechsel der Psalmen von einer Thematik zur anderen; relativieren so auch manches, was im einen Augenblick wichtig, im nächsten Moment schon wieder nachrangig sein kann. Sie geben, auch wo sie dich nicht betreffen, zugleich „Anschauungsmaterial“ und Vorlagen für Fälle und Zeiten, in denen eine ähnliche Situation dann doch einmal entsteht.

Lebens-Weisheit des Tanach

Die Psalmen enthalten damit ein vollständiges Summarium biblischer Schöpfungs- und Rechtfertigungslehre – ja, mehr: Eine vollständige theologische Beschreibung der menschlichen Existenz vor Gott und in der Welt. „Ich jedenfalls bin der Ansicht, dass in den Worten dieses Buches [im Psalter] das ganze menschliche Leben, sowohl die geistlichen Grundhaltungen als auch die jeweiligen Regungen und Gedanken, umfasst und enthalten sind. Nichts kann darüber hinaus im Menschen gefunden werden.“ (Athanasius)

Frohbotschaft statt Drohbotschaft

Worte sind wie eine Herberge! Manche Worte wohnen selbst in uns, sagt Luther, sprechen zu passender Zeit vom Elementaren, vom jetzt Richtigen und Wichtigen, weisen eine Richtung („Sinn“; dabei lässt sich definieren: Sinn heißt, Grund und Ziel zu haben). Offenbar liegt gerade an ihrer Viel-Gestaltigkeit, dass die Bibeltexte durch alle Zeiten, erst recht in der vielgestaltigen Post- und Spätmoderne, als eine ansprechende, aus sich heraus sprechende Großerzählung vernommen werden. Kinder z.B. lieben gerade die Geschichten des Tanach („weil da so viel passiert“), Luther redet von der göttlichen „Äneis“: Man wandert mit Mose und Elia durch die Wüste, sitzt mit den Gottesleuten in den Kerkern ihrer Zeit, freut sich wie ein Kesselflicker am Erfolg des Jona und zieht wonnestrahlend mit ein in das verheißene, versprochene Reich der himmlisch-glänzenden Stadt. Es ist gerade das viel-seitige Bibel-Buch, das den vielseitigen Erfahrungs-Welten jeder Zeit gewachsen bleibt. Der Leser wird dabei in eine schier unübersehbare, unauslotbare Vielzahl an Geschichten und möglicher Geschichtsperspektiven eingeführt.

Mit der Übersetzung auf der Wartburg überträgt der Bibelexperte Luther diese Worte mitten in seine Zeit. Und die Wiederentdeckung der Schrift löst Klärungsprozesse aus. Die Absurdität, Kirchenablass oder Vergebung zu verhökern, scheint denn doch zu offensichtlich… Der Papst (Pius V.) selbst räumt dies 1569 ein und untersagt Ablassverkauf bei schärfsten Strafen. Luther stritt also 1517 für eine heute gültige – wahrlich selbstverständliche – katholische Wahrheit; ja, hat diese kirchenhistorisch erstritten und gültig durchgesetzt. Luther in der Tat ein ökumenischer Kirchenvater (Walter Kasper).

Die Aussage des Papstes (Johannes Paul II.), dass Martin Luther „ein großer Glaubenslehrer war“, verwundert daher nicht. Und es gibt heutzutage wahrlich nicht nur viele Gründe für die Christenheit, gemeinsam statt getrennt voranzugehen, sondern statt sich in Negationen oder Negativitäten zu versenken, davon zu sprechen, was an der christlichen Botschaft positiv und hilfreich ist!

Was positiv und hilfreich ist

Sinnigerweise zählt eine der Kardinalstellen für Luthers exegetische Entdeckungen, Röm 1,17, als Beleg, mit dem Paulus das Evangelium dem biblischen Tanach gemäß nachweist: Für den Satz „der Gerechte lebt aus Glauben“, bzw. „der aus Glauben Gerechte wird leben“ nutzt der Apostel ein Tanach-Zitat („wie geschrieben steht“, Habakuk 2,4). Die Kernstelle der reformatorischen Entdeckung bezeugt die beanspruchte Tanach-Frömmigkeit des Paulus. Viele Ausleger sehen heute „Paulus innerhalb des Judentums“ (z.B. Paula Frederikson). Dass 1,17 nicht nur das Gerechtigkeits-Verständnis des Römerbriefs ist (Röm 4,5), sondern auch des Galaterbriefes (2,16), des Briefs an die Philipper (3,9), des Epheserbriefes (Eph 2,8), des Titus-Briefes (3,4f) u.a.m., ebenso des Johannes (Joh 15,3) und der Evangelien (Lk 17,10; Mk 2,17), wie schon der Psalmen, s.o., hatten die Reformatoren ausführlich vorgeführt. Dass (nur) eben dies dem Schöpfungswort bedingungslos geschenkter Würde gemäß ist, leuchtet ein. Und dass hierin aus heutiger Sicht eine lutherisch-katholische Übereinstimmung in vielen Grundwahrheiten besteht, wurde zuletzt (z.B. 1999) auch lehramtlich verbindlich festgestellt.

Zwischenergebnis: Gebildeter Glaube

Drei Ergebnisse lassen sich bis hierhin festhalten:

  1. Wie die Menschenwürde ist der Glaube ein unverdienbares Geschenk.
  2. Es hat die Form schlichten Gottvertrauens; eine wortbezogene Zuversicht.
  3. Glaube ist literarisch gebildeter Glaube.

Glaube als die richtige Relation zu Gott

Was ist also biblisch gesehen der Kern des Glaubens? Der Glaubende lebt schlicht im richtigen Verhältnis zum Schöpfer; er ist in der richtigen Relation zu Gott. Er vertraut ihm; sowie dem, was von ihm überliefert ist. Auch Luther hat wie Paulus und Jesus (s.u.) zum Tanach ein intensives und affirmatives Verhältnis, er lebt geradezu aus, mit und in der Bibel; im Tanach findet er die schönsten Exempel des Glaubens und theologischer Erkenntnis. Zu seiner Sprache äußert er sich in superlativischen Zuschreibungen. „Es ist die hebräische Sprache so reich, dass keine Sprache sie kann genugsam erlangen […] dass sie wohl billig eine heilige Sprache heißen mag.“ (1. Vorrede zum Psalter, 1524). Intensiv geht er sprachlich-philologischen Wortstudien und Begriffs-Erörterungen nach.

Biblische Begriffsbestimmungen

„Im Psalter […] begegnen oft diese zwei Worte bei einander: Barmherzigkeit und Wahrheit […]. Die habe ich verdeutscht also: Güte und Treue; und ist eigentlich, was wir auf frei deutsch sagen: Liebe und Treue; wenn wir pflegen zu sagen: Er hat mir Liebe und Treue bewiesen.“ Und weiter: „So heißt Wahrheit Treue, dass man sich auf einen verlassen darf und Zuflucht zu ihm habe, und derselbe halte, was er geredet und wes man sich zu ihm versiehet. […] Solche Treue und Wahrheit heißt Emeth. Daher kommt Emuna, welches S. Paulus selbst aus Habakuk verdolmetscht: Glaube, Röm 1(17): »Der Gerechte lebet seines Glaubens«, […], so dass die zwei Worte Wahrheit und Glaube im Hebräischen fast gleich, und schier eins für das andere genommen wird.“ (1524, zitiert nach Heinrich Bornkamm, Luthers Vorreden zur Bibel). Wir sehen, wie Luther hier in und mit den feinsinnigen Begriffsbestimmungen dem Geist der Schrift nachspürt.

Buchstabe und Geist

Weil die Bedeutung des Geistes in internationalem Kontext immer wieder betont wird, scheint es lohnend, auf diese genauer einzugehen: Eine klassische Unterscheidung im rabbinischen Judentum ist die zwischen schriftlicher und mündlicher Weisung (schriftliche und mündliche Tora). Sie zeigt Ähnlichkeiten zur Unterscheidung des Paulus zwischen Buchstabe und Geist. Dass die Unterscheidungen zusammenhängen, könnte u.a. daraus erhellen, dass beide im selben Kulturraum der Levante etwa zeitgleich aufkommen: In den Briefen des Paulus haben wir um die Mitte des 1. Jahrhunderts den frühen Beleg für die Unterscheidung von Geist und Buchstabe. Und mit Entstehung rabbinischen Judentums etwa ab dem selben Zeitraum gewinnt die Unterscheidung von schriftlicher und mündlicher Unterweisung ihre maßgeblichen Trägerkreise.

Der Geist der Schrift

Über Buchstabe und Geist schreibt Paulus: Schriftlichkeit und Buchstabe sind wichtig – sie taugen gleichwohl nicht(s) ohne den richtigen Geist. Um den Buchstaben zu verstehen, ist Geist nötig! Buchstabe ohne Geist würde zum toten Ding; es ist der Tod im Topf, wo jemand ohne Geist mit Buchstaben umgeht. Geist kommt auf Dauer aber auch nicht ohne Buchstaben, ohne die Schrift aus, soll der Geist Bestand haben.

Und so lobt und pflegt schon das alte Israel die Fülle und den Reichtum schriftlicher Überlieferung (Ps 119,105). Glaube und „Frömmigkeit“ aus jüdischem Geist ist Schrift-Frömmigkeit! Dabei hat das Heute der Schrift immer den Vorrang: Die Gegenwart ist im hebräischen Denken die wichtigste Zeit. Um jeweils das Gotteswort (bzw. den damit verknüpften Gotteswillen) der jeweiligen Gegenwart auszulegen, dient z.B. ein deutender Maschal, damit sein Inhalt leichter begreifbar wird (hebr. maschal meint: deutender Spruch; Deutewort mit Vergleich; ein ausdeutendes Gedankenbild: „Bei diesem ist es so wie…“).

Biblischer Begriff von Gerechtigkeit und Freiheit

Über die klassischen Begriffe des Tanach wie Versöhnung oder Befreiung, Vergänglichkeit und Weisheit, über die zehn Gebote verstanden als positive Lebensweisung, über die Fülle der Psalmen, auch die zu „Gottes Königtum“ (bzw.: „Reich Gottes“), über die Schalom-Prophetie lässt sich so ein erkennender Zugang finden in den Geist der Schrift. Viele Fragen auch heutiger Gegenwart werden in den Psalmen in vielfacher Hinsicht behandelt (klassisch z.B. die Gottesfrage, Fragen nach Gerechtigkeit, nach dem Wo des Reiches Gottes, nach persönlicher Lebensführung…).

Selbst das individuelle (Schalom-, Wohlstands-, Heils- und) Glücks-Streben – engl: Pursuit – verhandelt der Psalter (z.B. Ps 91,16). Denn, sooft es auch kollektive Wir-Aussagen gibt, finden sich in den Psalmen unzählige exemplarische Ich-Aussagen und Ich-Reflexionen, die jeden Einzelnen betreffen (können) und in denen sich jeder Einzelne (s.o.) wiederfinden kann. Die später für die Neuzeit reklamierte Prinzipialisierung, Ausweitung oder Zuspitzung religiöser Fragen auf Individualität bzw. Individualisierung ist für Psalmbeter ein alter Hut!

Individualisierung ist für Psalmbeter ein alter Hut

Geschichtliche Erfahrungen, Gottesworte, ins Versmaß gesetzte poetische Verdichtungen sind im Psalter gesammelt. „Summa, der Psalter ist eine rechte Schule“, in der das menschliche Gewissen und der Gottesglaube „sich bildet“, übt und stärkt (Martin Luther, Nachwort zum Psalter, 1525). Luther und die reformatorische Singe-Bewegung werden mit ihrer Hochschätzung des Psalters ab 1523/24 so auch zum Erfinder oder Vorbildgeber für volkssprachliche Psalmenvertonungen im Lied (z.B. zu Ps 124; Ps 67; Ps 130; u.a.).

Wir merken dabei immer mehr schon schlicht an der Vielzahl der Themen, Begriffe und Perspektiven, wie weitreichend, universell und vielschichtig die biblische Tradition insgesamt ist.

Diese Fülle der Themen ließe sich auch zeigen an den Zeitpsalmen und ihren Reflexionen auf die große ethische Bedeutung der zufallenden „Zeit“ (vgl. z.B. nur „Meine Zeit steht in deinen Händen, Ps 31,16):

Die Psalmen sehen den Menschen, wie er mit dem Lebensgeist ausgestattet wird (Ps 104,30), als geborgenes Kind in Obhut der Eltern aufwachsend, zu Großem bestimmt und gerufen, mit heilsamen Grenzen begrenzt, von der Jugendzeit bis ins Altern durch magere wie erfüllte Jahre (Ps 90); immer wieder der erhaltenden und erneuernden Zuwendung des Höchsten bedürftig, morgens und abends (Ps 4,9) – jeden Tag neu; schließlich die Existenz und Seele zur Vollendung seinem Schöpfer befehlend (Ps 31,6).

Dem entspricht das Eingeständnis, die Lebenszeit und die Welt eben nicht selbst in der Hand zu haben (eigentlich eine Plattitüde…), zugleich ist es eine entlastende und befreiende Erkenntnis – und um ehrlich zu sein, ist es ja einfach realistisch und wahr.

Wie schon ähnlich das 1. Buch Mose eine in sich gerundete Inclusio bietet, vom „Siehe, es war alles sehr gut“ der Schöpfung (Gen 1) bis zum Schluss des Josef: Es ist einiges schiefgelaufen, aber Gott hat es wieder gut gemacht (Gen 50,20). Und so gilt: „Herr aller Welten! Nicht ob unserer Frömmigkeit legen wir unser Bitten vor dir nieder, sondern ob deines großen Erbarmens“ (jüd. Morgengebet).

Die Weisung der Schrift

Die Schriften des Tanach waren zur Zeit Jesu noch nicht kanonisiert: Auch wenn der Großteil der dann zum Kanon werdenden Schriften sich schon abzeichnet, ist vieles noch im Fluss – eine verbindliche Festlegung entsteht erst später. Wenn der Rabbi Jesus also vom Gesetz und den Propheten spricht, ist zwar einerseits die überlieferte Heilige Schrift im Blick. Deren genauer Umfang stand allerdings noch gar nicht fest.

Tora und Weisung

Dabei kann Gesetz (Nomos/Tora) zwar Gesetzesinhalte und Gesetzliches meinen, aber genauso Weisung oder die Mosebücher in ihrer Gesamtheit (den Pentateuch). Wenn man in der Bergpredigt Mt 5 Vers 18 Tora mit Weisung (oder auch: „die Summe des Pentateuch“, o.ä.) übersetzt, anstatt mit Gesetz, erübrigen sich eine Vielzahl exegetischer Auslegungsfragen!

Dies zu beherzigen, entspräche dem „Grundsatz“ Johannes des Täufers: Dieser muss mehr werden, ich aber weniger werden.

Der Mensch als ein geistiges Wesen

Die Schrift ist geist-lich auszulegen… Weil der Mensch ein Geist-Wesen ist und auch Gott wesentlich „Geist ist“ (so Paulus), kann auch Glauben (nur) ein lebendiges Geist-Geschehen sein. Dies ist mit Luther sogar eine Wesensbestimmung (Glauben ist ein göttliches Werk und Wirken in uns, ein Wirken des Geistes; so dass es (mit Paulus) sogar heißen kann: Bitte Gott, dass er seinen Geist dir gebe und (so) „den Glauben in dir wirke“, sonst bleibst du gewisslich ohne denselben.

Ein Rabbi aus Nazareth

Mehr noch als Paulus sehen viele heutzutage Jesus von Nazareth im Judentum verwurzelt. Spannenderweise ist die Ehrenbezeichnung Jesu im Neuen Testament als Rabbi sogar der erste schriftliche Beleg überhaupt, dass einzelne Lehrer und Personen mit diesem Titel angesprochen wurden.

Dabei zitiert der Rabbi Jesus laut Neuem Testament regelmäßig die Psalmen. Wie überhaupt Psalmen zu den im NT am häufigsten zitierten Texten des Tanach gehören. Oft wird ein Psalmwort zu einem ausdeutenden Maschal verbunden. Auch etliche Gleichnisse Jesu haben ihre Wurzel direkt im Tanach (Mk 4). Psalmen zeigen wie Gleichnisse schon durch die literarische Form ihren poetisch-schöpferisch ansprechenden Charakter. Auch das trägt sicherlich zu ihrer besonderen Wirkung bei.

Schon daran, dass kontinuierlich Bezug auf die Psalmen genommen wird (siehe z.B. nur Ps 119,176), ließe sich Jesu Lehre klar als schriftbezogen charakterisieren. Auch insoweit erweist sich Rabbi Jesus als ein „klassisch“ zu nennender Repräsentant des Tanach. Wir sehen ihn Psalmen rezitierend, Gesetz und Propheten auslegend; und auch „sein“ Lehrgebet (das Vaterunser) ist ein durch und durch vom Geist des Tanach geprägtes Gebet. (Vgl. 3. Vorrede auf den Psalter, 1545, zur engen Verbindung von Psalter und Vaterunser. Man könnte das Vaterunser als eine Zusammenfassung der Psalmen auffassen.)

Nun ist es ja so: Luther lebte vor 500 Jahren, seine Übersetzung sprach natürlich zuerst zu den Menschen seiner Zeit. Die Übersetzung wird freilich nach wie vor verwendet (mit einigen Anpassungen an den veränderten Sprachgebrauch), und von nicht wenigen als besonders ansprechend erlebt. Es lässt sich aus seiner Übersetzungspraxis daher viel für unsre, wie jede, Gegenwart lernen. Nicht zuletzt an der Psalmenübertragung hat er demonstriert, dass kontinuierliches Verbessern nützlich ist, „wie man beim Dolmetschen näher und näher kommt“ (Nachwort zum Psalter, 1531), er und sein Übersetzerteam haben immer wieder aufs neue die „Worte auf die Goldwaage gelegt“, ein Wort durch ein anderes, besseres ersetzt. Was macht gutes Übersetzen aus?

Übersetzungstheorien

Eine heutige Definition lautet:

„Translating consists in reproducing in the receptor language the closest natural equivalent of the source language message, first in terms of meaning and secondly in terms of style“ (Nida/Taber, zitiert nach R. Stolze, Übersetzungstheorien):

Übersetzen besteht im Nachproduzieren des in der Rezipienten-Sprache treffendsten Äquivalents zu der Intention in der Originalsprache: erstens im Sinn, zweitens im Stil.

Dass es auf solches Übersetzen im umfassenden Verständnis auch bei der Begegnung und Inkulturation der christlichen Werte und Worte in einer fremden Kultur ankommt, ist leicht einzusehen. Übersetzen in Sprache und Kultur ist ein komplexes Unterfangen. Beim Übersetzen der Bedeutung und des Sinns, auch von einer Zeit in eine andere, gilt es vieles zu beachten.

Eine Möglichkeit im Umgang mit Einzeltexten ist ein Skopus-orientierter, d.h. man sucht und bedenkt die jeweils hauptsächliche Aussageintention – anders gesagt: den wesentlichen Gedankeninhalt, resp. „Geist“ – eines Textes. (Vgl. dazu die Empfehlung und ergänzenden Auskünfte über die Übersetzungsprinzipien Luthers in den Summarien über die Psalmen und Ursachen vom Dolmetschen, 1531/33.)

Beim Übersetzen der Bedeutung und des Sinns einer Figur, auch hier von einer Zeit in eine andere, ist besonders abzuwägen: Was ist unaufgebbarer Kernbestand, was nur äußerliche Begleiterscheinung. Die Wort- und Schrift-Frömmigkeit ist kein Biblizismus, nicht einmal beim Übertragen und Übersetzen. Auslegeinstanz und -kriterium ist die Person und Lehre des Rabbi Jesus aus Nazareth. Der sagte: Liebe sei das Wichtigste. (Vgl. Joh 15,12; vgl. 1Kor 13,13.)

Das exemplarische Ich des Psalters

Dies entspricht der päpstlichen Aussage, dass im Mittelpunkt der Christenheit mehr noch als ein Buch genau genommen eine lebendige Person zu sehen ist: Ein ur-lutherischer Satz! (Vgl. etwa Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll, 1522.) Noch genauer formuliert: Die Mitte der Schrift ist eine Person. Was sich zumal schon rein äußerlich demonstrieren lässt: Würde man etwa im NT alle Sätze von oder mit Bezug zu Jesus von Nazareth streichen – was würde übrigbleiben?

Der Sinn für uns

Auch für die Frage nach dem Sinn, worin der Geist und „Logos“ dieses „Rabbi und Menschensohnes“ – bzw. überhaupt des menschlichen Lebens – (heute) zu sehen sei, worin eine Relevanz „für uns, für dich, für mich“, ist die Antwort ja nicht immer offensichtlich. Was sollte es für dich bedeuten, wenn vor 2000 Jahren ein Wanderprediger in Galiläa die Gleichnisse Vom Verlorenen erzählte (Lk 15), das Von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) oder das Von den Talenten?

Beim für uns ist zu klären: Warum kann eine Erzählung von vor Tausenden von Jahren heute Bedeutung haben, Relevantes sagen? Sinn machen, Sinn haben? Wie könnte ein Wort Versöhnung stiften? Vergebung zusprechen? Naja, das ist leicht, werden Sie antworten, und Sie hätten damit recht. Doch stellen sich weitere Fragen.

Inwiefern kann behauptet werden, dass dessen gesamte Existenz zu unserem Vorteil und unseren Gunsten (d.h.: für uns) stattgefunden hat? Wie sollte das mit seinem Lebensende zusammenhängen? Für das Neue Testament etwa ist der Bericht vom Ende auf der Schädelstätte – Golgatha – nichts, das man verschweigen sollte oder dessen man sich schämen müsste; sondern ist hoffnungsstiftend, neues Leben begründend und eine „Kraft“. Denn es besagt doch: Selbst wenn innerweltlich manches – Sinn, Erfüllung, das Ziel oder der Grund – verborgen, für uns unkenntlich im Dunkeln liegt, ja selbst bei völligem Abbruch jeder Logik, ist der Logos Gottes keineswegs am Ende. Er hat auch und gerade dazu viel zu sagen. In der dauerhaften Erlösung von scheinbaren Sinnlosigkeiten, von Vergeblichkeit und Todesschrecken, von Vergänglichkeit („ewiges Leben“) hatte das Auftreten und Leben des Wanderpredigers ja Grund und Ziel. Und so wird sein Auftreten und Kommen in die Welt in der Schrift zurecht als Schalom-bringend gesehen und eingehend begründet.

Er vermittelt; ist der Mittler zwischen der göttlichen-himmlischen Sphäre und der menschlichen. Er vermittelt zwischen der oft unfertigen, fragmentarischen, sinn-offenen (Menschen-)Welt und der vollkommenen, vollständigen und heilvollen göttlichen Welt. Vermittlung heißt: Versöhnung. Es ist die – in biblischen Begriffen – Rettung und Überwindung einer todesverfallenen Welt.

Vermittlung ist Versöhnung

Und dies gilt selbst, wenn davon nicht gleich etwas zu sehen ist. Unser Leben sei ein Leben im Glauben nicht im Schauen, sagt die biblisch-apostolische Tradition. Zu diesem Glaubensbegriff passen Sätze wie Glaube scheint vergeblich zuweilen; der Glaube hat alles in Fülle; „Glaube wächst in der Wüste“; Glaubens-Zeit und Prüfungs-Zeit sind wie die Gezeiten eines und desselben Meeres. Denn Glaube hat teils mit (noch) Unsichtbarem zu tun (… uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare; 2Kor 4,18), wie gleichfalls mit dem der Welt sichtbar einwohnenden Logos (Joh 1). Es ist eine Sinn-Zusage „höherer Ordnung“, eben nicht im Menschlichen und seinen Möglichkeiten begründet oder realisierbar, sondern allein von Gott selbst garantiert, und herbeigeführt.

Literarisch gebildeter Glaube

Kirchlicher, traditionsgemäßer Glaube ist literarisch gebildeter Glaube. Im doppelten Sinn: Erstens ist es nicht ein in luftleerem Raum gebildeter, sondern von einem bestimmten Logos gebildeter und genährter Glaube. Der Glaubende fängt nicht „bei Null“ an. Er ist nicht der erste so Glaubende. Er wird auch nicht der letzte sein. Zum zweiten: Es ist ein gebildeter Glaube, weil er seine angebbaren Quellen hat. Diese sind literarisch vermittelt (lat.: littera), in Buchstaben und Büchern überliefert: „in der Schrift.“ Der Glaube kann an diesem schriftlichen Maßstab gemessen und geprüft werden.

Friedliche Reformation

Für die Reformatoren sollte die Schrift der Maßstab sein: Entlang dem biblischen Menschenbild formulierten die Wittenberger ihre Vorschläge. Dass es friedliche Möglichkeiten ihrer Umsetzung gab, zeigt die von Luther publizistisch vorangetriebene Ordnung kommunaler Sozialkassen, modellhaft in der Leisniger Ordnung, die manche das erste Sozialpapier der Neuzeit nennen. Die Bürgerkasse, 1520 von Luther angeregt, 1521/22 in Wittenberg eingeführt, vergibt Stipendien für mittellose Familien, regelt die Versorgung von Witwen und Waisen, Schulunterricht, und organisiert weitere kommunale Investitionsvorhaben (vgl. Luthers Pazifismus, evangelische aspekte 4/2022). Für Hamburg soll sie einer der Hauptgründe gewesen sein, zur Reformation überzugehen.

Mitten in der Welt

Nach der von Luther 1523 vorgestellten Musterordnung sind für die Verwaltung der Kasse zuständig: Bauern, Bürger, Stadtbewohner. Wohlgemerkt: Ohne Beteiligung der Geistlichkeit. Die Musterordnung erscheint noch 1523 in acht Auflagen. Die Landesherren reagieren jedoch alles andere als begeistert. Mehrfach muss sich Luther dafür einsetzen. Bürgerkassen und Äquivalente wurden eingeführt z.B. 1523/29 (Leisnig), 1523 (Straßburg), 1524 (Magdeburg), 1524 (Windsheim), 1525 (Stralsund), 1526/29 (Hamburg), 1531 (Lübeck).

Gewissensfreiheit und Vernunft

In der reformatorischen Anerkennung zugesagter Menschenwürde, als „Kind und König in Personalunion“ (Oswald Bayer, Vernunft und Vertrauen, vgl. die Rezension), die Luther aus den Psalmen (z.B. Ps.-Vorlesungen) und weiteren biblischen Schriften aufgegangen war, wurzelte zugleich seine eigentümliche Freiheit zum Wort, die er z.B. in Worms 1521 unter Beweis stellte. Solange das exegetisch Vorgetragene nicht durch „Zeugnis der Schrift“ oder „klare Vernunftgründe“ widerlegt wäre, könne und wolle er dies auch „nicht widerrufen … wider das Gewissen“ (WA 7, 838). Diese Berufung auf Gewissen und Vernunft hat Luther auch nicht in den tagelangen Verhandlungen vor den kurialen und kaiserlichen Vertretern im Reichsausschuss aufgegeben. Er war bereit, dafür auch verbannt zu werden.

Stellvertreter, ambassadors

Nun ist es aber doch so: Kirchliche Nachfolger der apostolischen Tradition (z.B. Bischöfe, Pastoren …) sollen gemäß kirchlicher Lehre Nachfolger und Stellvertreter ja nicht eigentlich des Petrus, sondern des Meisters (Rabbi) selber sein. (Engl.: Sie sind ambassadors: – Repräsentant, Stimme und dessen Vertreter.) Mit der jüngsten Kurienreform ist diese Bestimmung sogar in einer Stadt wie Rom als Zielvorstellung formuliert, was kaum hoch genug einzuschätzen ist.

Nachfolger und Vertreter des Meisters selber sein

So hast Du hier eine leichte Regel, mit der Du bestimmen kannst, wann die Aussage eines Bischofs, Pastors oder Kurienmitarbeiters Bestand haben wird. Lehrt und vertritt es, was der Meister vertritt: So kann es Bestand haben und Du kannst es bewahren. (Wo nicht, da nicht…)

„Gerecht und ungerecht zugleich“

Nimmt man Notiz von einer Aussage wie „Gott ist Liebe“, wie sie im 1. Johannesbrief zu finden ist, und den dort gleichzeitig aufgestellten strukturellen Analysen – z.B. wer liebt, der ist in Gott, und Gott ist in ihm; wer nicht liebt, in dem ist Gott nicht, etc., (1Joh 4,7f.12.18b; u.ö.) – dürfte man kaum daran vorbeikommen, dass hier eine Beschreibung des Christenmenschen vorliegt, die ihn in gewisser Hinsicht als gerecht und ungerecht zugleich charakterisiert: simul iustus et peccator. Schon wenn stimmt, dass wir täglich das Vaterunser zu sprechen haben mit der Bitte um Vergebung, erklärt Luther sinngemäß bei der Auslegung des Herrengebets im Großen Katechismus, 1529, ist das Wahrheitsmoment dieser Formel kaum zu leugnen. Auch wenn diese Kurzformel keine Prämisse „sine qua non“ darstellt, besitzt sie doch einen Erkenntnisgewinn vermittelnden, und (kirchliche) Realitäten erschließenden Kern. Sie ist in der Lage, die Gestalt und Physiognomie des Petrus (z.B. im Matthäus-Evangelium) genauso zu erklären, wie die des keineswegs Fehlerlosigkeit für sich beanspruchen könnenden (oder wollenden) Reformators Martin Luther: Jedes Gewissen kann fehlgehen und sich täuschen – gerade deshalb ist der Maßstab des literarisch überlieferten und literarisch ermittelbaren Logos: des Geistes und Sinnes der ursprünglichen Stifterintention des Meisters so zentral und wichtig (Kanonsregel).

Luther als Anwalt frühmoderner Rechtsentwicklung

Wie aber stand es um das Gewissen bei der Forderung nach Menschenrechten 1524/25, als sich die Bauern auf den Bibeltext beriefen? In der Bauern- und Bürgerkriegs-Frage war für die Reformation zu klären, von einem übergeordneten Standpunkt aus: (Wie) lässt sich das (lange eingebürgerte) Fehde-Unwesen, das Faustrecht, überwinden und die friedliche Beilegung von Streitigkeiten etablieren? Der „Ewige Landfrieden“ von 1495 hatte versucht, die ewigen Kleinkriege selbst zwischen kleinsten Grafen, Parteien, Gruppen zu stoppen. Und an deren Stelle eine verrechtlichte Konfliktbewältigung zu setzen. Gemäß Verfügung des Kaisers (Maximilian I.) – nach Beratungen und Zustimmung der Reichsstände – soll und darf im gesamten Reich hinfort niemand, von welchen „Würden, Stands oder Wesens“ auch immer, die anderen „befechten, bekriegen, berauben…“ (Ewiger Landfrieden, § 1). Ein wichtiger Schritt der Rechtsentwicklung. Eine Vorstufe zum staatlichen Gewaltmonopol. Reichsrechtlich gültig setzt § 4 die Verpflichtung, jeden des Friedbruches Verdächtigen anzuzeigen, zu stellen, ihm zu wehren und diesen der Reichsacht Verfallenen zu richten. Wer dies nicht befolgt, verliert selber seine Rechte. Die aufständischen Bauern mussten – unbesehen wie zustimmungsfähig, innovativ oder bahnbrechend die Forderungen waren – als Landfriedensbrecher gelten.

Luther bot sich zur Vermittlung an; gegenüber aufwiegelnden Stimmen, und mit Hinweis auf die biblische Weisheit „Wer zum Schwert greift, kann um so leichter dadurch umkommen“, ist aber die durchgehende Absicht und Zielsetzung der Rechtssicherung, Schutz der einfachen Bevölkerung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Luthers Äußerungen erkennbar.

Das jeweilige Gewissen zu beachten

Grundsätzlich bleibt zu bedenken, dass Luther im Frühjahr 1525 in keiner Weise eine echte Entscheidungs-Funktion hatte. (Wie überhaupt kaum während seines Lebens je einmal, meist war er unverbindlicher Ratgeber, der Vorschläge machte – denen dann manche folgten.) Ein lutherisch geprägtes Landesterritorium gab es 1524/25 nirgends; und innerhalb der reformatorischen Bewegung meldeten sich heftigste Kontroversen an, z.B. was die Schnelligkeit von Reformen betraf. Luther optierte für ein die jeweiligen Gewissen beachtenden langsames Voranschreiten, anderen wiederum ging es kaum schnell genug. Wie ließe sich das lösen? Es zeigte sich, damals wie heute kann und konnte es nur so gehen, dass beide, Reformer und Bewahrer, den Weg und die Weisung des Meisters beachten. Wofür die Vorschläge der Wittenberger ein Angebot waren.

Volkssprachliche Bibelübersetzung trotz kirchlichem Verbot

Autorität besaß Luther in erster Linie als meistgelesener Autor dieser Zeit, als mutiger Worttheologe auf dem Wormser Reichstag und besonders „frisch“: als Übermittler und „Offenbarer“ des Wortlauts der Heiligen Schrift. Trotz kirchlichem Verbot veröffentlichte er 1522 den Bibeltext in volkssprachlicher Übersetzung. (Denn jeder sollte in der Lage sein, nachzuprüfen, was im Wort Gottes steht.) Die Empörung bei nicht wenigen war dann groß, weil viele Kirchensätze und -gesetze sichtlich so gar nicht dem Wort Gottes entsprachen … ! Auch ein Teil der Vehemenz der Bauernbewegung ist mit aus dieser Empörung zu verstehen.

Tatsächlich war ja erst Luthers Bibelübersetzung der Grund gewesen, dass Bevölkerungs-Schichten wie die des „Gemeinen Mannes“ sich auf die Bibel überhaupt berufen konnten: Dass sie ihren Wortlaut in größerem Umfang kannten. Gemeinsamkeiten zwischen Luther und Bauern- sowie Bürger-Interessen bestanden des Weiteren darin, dass Gemeinden ein Mitspracherecht bei der Besetzung von Prediger- oder Pfarrstellen haben sollten (programmatisch vorgesehen mit der Leisniger Musterordnung), ferner in der Bestimmung des Menschen als grundlegend frei: „Ein Christenmensch ist [im Glauben] ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“ – wobei der zweite Satz der lutherischen Doppelthese sogleich mitzuhören ist, dass diese Freiheit nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Gemeinwohl, zum Wohle anderer Menschen (des „Nächsten“: christliche Nächstenliebe) verwendet werden solle: „Ein Christenmensch ist [in der Liebe] ein dienstbarer Knecht aller Dinge“, und jedermann gern zu Diensten, Hilf und Nutzen; Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520, lat. De libertate christiana. Mit seiner zweisprachigen Freiheits-Schrift hat Luther zugleich Anliegen der Mystik „demokratisiert“ (vgl. Eph 3,17).

Übrigens dürfte sich in der auffälligen Bezeichnung „Christenmensch“ – ein markantes Lutherwort – das Anliegen wiederfinden, Frauen und Männer in gleicher Weise anzusprechen …

Politische Ethik

Weiter setzt Luther sich für soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft ein, indem er sich für Bildung aller Schichten ausspricht. Die überkommene starre Einteilung der Gesellschaft in drei Blöcke („Stände“; Nähr-/Wehr-/ und Lehr-Stand) wird bei Luther im Grundsatz aufgebrochen. (Das lässt sich schon daran sehen, dass er alle drei Dimensionen jedem Menschen systematisch zuteilt. Nach Luther hat jeder Mensch qua Geburt auf seine Weise Anteil sowohl am „Haus“ (in dem er wohnt: die ökonomische Dimension im weitesten Sinne, status oeconomicus), damit direkt oder abgeleitet an der (Stadt-)Politik (Polis / Politik als der die Umstände gestaltenden Dimension, status politicus), als auch an der Dimension des Glaubens (Kirche / „Religion“, status ecclesiasticus ; vgl. Oswald Bayer, Freiheit als Antwort). In seiner Magnifikat-Auslegung (1521) und dem Fürstenspiegel (1523) hatte er ein klares Bild guter Regierungsführung gegeben: „dass er ihnen nützlich und dienlich sei, und nicht so denke: Land und Leute sind mein, ich will’s machen, wie mir’s gefällt; sondern so: Ich bin des Landes und der Leute, ich soll’s machen, wie es ihnen nützlich und gut ist.“ Zentrale Leitbegriffe seiner politischen Ethik sind Billigkeit (im Sinne von Angemessenheit und Ausgewogenheit) und Gemeinwohl: die allgemeine Wohlfahrt der Bürger.

Und früh hat er sich gegen Wucherzinsen eingesetzt (z.B. 1519; 1524), und somit gegen die strukturellen Gegebenheiten, die in der Tendenz den kleinen Mann „aussaugten“ – also gerade eines der Grundprobleme benannt, das als eine Ursache für die zunehmenden Probleme der Bauernschaft gesehen werden kann (Teuerung; Zins-Abhängigkeiten…). Manche nennen Luther den Begründer oder Erfinder des Kapitalismus; linke Theoretiker schätzen ihn als Nationalökonom, oder sehen seine Kritik an kapitalen Auswüchsen als willkommenes Korrektiv. Ein Ansatz unter Subsidiaritätsprinzipien wie bei der Leisniger Ordnung wird nicht zuletzt als Impulsgeber für die Soziale Marktwirtschaft bewertet (mit ihrer Balance aus kompetitivem Wettbewerb und ausgleichenden Elementen), bekanntermaßen ein wirtschaftliches Erfolgsmodell: Auch in wirtschaftsethischer Hinsicht hat lutherisches Reformdenken langfristig und vielseitig gewirkt.

Soziale Durchlässigkeit

Insgesamt ist bei Luthers Reformbestrebungen oft übersehen, dass von 1512 bis 1517 ja gerade erst ein fünfjähriges Konzil stattgefunden hatte (das V. Laterankonzil): und zwar wieder einmal ohne nennenswerte Wirkungen…

Nun verhält es sich mit zu versteinerten Heroen erhöhten Figuren (wie Luther) manchmal so, dass, wenn man sie vom hohen Sockel herunternimmt und in neue, veränderte Kontexte setzt, sie anfangen, sich zu vervielfachen, zu multiplizieren, „mehr“ zu werden. Man darf also weiter gespannt sein.

Luther hat mit seiner friedlichen Reformation einen gangbaren Weg gewiesen, Bauern- und Bürgerrechte erfolgreich durchzusetzen. Luther war definitiv ein „Katalysator“ für Veränderung (Mischa Kuball) – dies aus biblisch gewonnenen Einsichten heraus, die Entwicklung frühmoderner Rechtlichkeit schützend sowie fördernd und gerade so ein Anwalt von Gewissensfreiheit, Redefreiheit, generell gesagt als („Parrhesia“): Freiheit zum (biblischen) Wort. Dieses Wort lässt sich auch heute vernehmen.

Eine Kurzfassung dieses Beitrags findet sich in der gedruckten Ausgabe der evangelischen aspekte 3/2024, sowie hier.

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