Schätze des Judentums Erkundungen im Tenach

Tieferes Wissen über das Judentum ist nur gering verbreitet. Ein Blick in die hebräische Bibel offenbart den Reichtum einer jahrtausendealten Schrifttradition.

Die jüdische Tradition ist so reich, dass sich gleich mehrere Weltreligionen auf sie berufen. Ihre Schriften reichen zurück bis in die Anfänge der Menschheit. Ein Zeitraum von über 4.000 Jahren wird durch sie umfasst. Sie handelt von der Erschaffung der Welt bis in die Gegenwart. Jeden Morgen beginnt der traditionelle Jude mit Gebet, lobt und dankt seinem Schöpfer. Jeden Abend beschließt er mit Gebet. So soll das ganze Leben von dem „Lufthauch“ des Schöpferlobs (Psalm 104,24ff) durchzogen und getragen sein.

Wodurch ist das Judentum bestimmt? Seit dem Urdatum des Exodus, dem Auszug aus ägyptischer Gefangenschaft im 3. Jahrtausend jüdischer Zeitrechnung, steht die Weisung seines Gottes an erster Stelle, wie sie im berühmten Schma Israel („Höre Israel“) festgehalten ist. „Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,4f). Das Schma erklingt im Morgengebet und im Abendgebet. Es soll in der Todesstunde gesprochen sein.

1. Traditionen des Tenach

Weisung, Gebot, Tora haben für den traditionellen Juden einen positiven Klang. Tora kann dabei die Weisungen Gottes insgesamt bedeuten, zusammenfassend für die fünf Bücher Mose stehen oder in besonderer Weise für das mosaische Gesetz, für das Zehnwort, das dem Volk Israel beim Auszug aus Ägypten gegeben wird. Gleich zweimal finden sich die Zehn Gebote in der Tora (2. Mose 20; 5. Mose 5). Das Gesetz und die Propheten (Tora und Nebi’im) bilden schließlich zusammen mit den weiteren Schriften (Chetuvim) den Tenach.

Begeben wir uns auf einen kleinen, unvollständigen Streifzug durch die hebräische Bibel, auch – „altes“ oder – „erstes Testament“ (E. Zenger) genannt. Wir wollen sehen, welche Reichtümer der Tenach zu bieten hat.

Geist: Ruach

Viel öfter als einem gelegentlichen Leser des Tenach bewusst, spielt der Topos des Geistes (Gottes) eine Rolle. Der „Odem“ ist es nicht nur, der den Mensch zum Menschen macht (Gen 2,7). Von ihm wird vielfach auch bei den Prophetenberufungen berichtet.

Besonders ein- und nachdrücklich der große Schriftprophet Ezechiel/Hesekiel: Als Israel sich (wieder einmal) nicht ganz adäquat verhält, soll der Prophet an das Volk die Botschaft Gottes einer völligen Neugestaltung richten: Denn „ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben, damit sie in meinen Geboten wandeln und meine Ordnungen halten…“ (Ez 11,19, vgl. Ez 36,26f; 39,29).

Ob das gelingt? Folgt im weiteren Prophetenbuch dann diese schier unvergessliche Schilderung: „Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es.“ Weiter soll der Prophet verkünden: „So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet.“ „Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich … und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen … Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße“ (Ez 37,1-14).

Schöpfung (1): Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde

Auch bereits im Schöpfungsgeschehen zeigt sich ruach, wenn es vor der Erschaffung von Erde und Himmel heißt: Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser und all dem tohuwabohu (Gen 1,2). Wie angeklungen ist der Schöpfungsglaube bestimmendes Element im Judentum. Zwei Schöpfungsberichte eröffnen den Tenach. Schöpferlob und Rückbesinnung auf die Schöpfung ist aus jüdischer Frömmigkeit kaum wegzudenken. In der Schöpfung hat sich die unübertreffliche Größe und Herrlichkeit des Gottes (JHWH) Israels gezeigt.

Wort: Dabar

Nach dem Alttestamentler H.D. Preuß ist das gemäß „Gebrauch und Häufigkeitsstatistik des AT wichtigste Offenbarungs- und Wirkungsmittel JHWHs […] sein Wort“, sein dabar. Bei dem großen Schriftpropheten Jesaja sind es die kraftvollen Trostworte bei der Rückkehr aus dem babylonischen Exil, die das Volk Israel auf den Weg bringen. Es wird gewissermaßen „Los“-gesprochen… Jes 40; Jes 55,10: „Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt […], so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“

„Ist nicht mein Wort wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“, fragt der Prophet Jeremia (Jer 23,29). Als „Spruch des HERRN“, „So spricht der HERR“ oder schlicht „Wort des HERRN/Wort Gottes“ wird die sog. Botenformel im Tenach geradezu als terminus technicus zu einer feststehenden Wendung. Auch die Schöpfung selbst geschieht durch Gottes Dabar: Und Gott sprach… und es geschah so (Gen 1; Ps 33,1-9).

Tora und Propheten

In besonders hohen Ehren, ja höchsten Ehren, stehen im Judentum die fünf Bücher Mose, die Tora im engeren Sinne. Innerhalb eines Jahres wird im Synagogengottesdienst der vollständige Text vom 1. Buch Mose bis zum 5. Buch in festgelegten Abschnitten gelesen. Als zweite Lesung jeweils ein Abschnitt aus einem der Prophetenbücher, zumeist Jesaja, Jeremia und Ezechiel (aber auch Hosea, Amos, … oder aus den Büchern der Könige). Die Wendung „Gesetz und Propheten“ kann dann auch für die jüdische Schrifttradition insgesamt verwendet werden.

„In jeder Generation soll der Mensch sich betrachten, als sei er selber aus Ägypten ausgezogen“, heißt es in der Haggada, der liturgischen Erzählung vom Auszug aus Ägypten für den häuslichen Gottesdienst. Der Familienvater ist zusammen mit der Mutter dafür zuständig. Es wird erinnert an die Übergabe der zehn Gebote, dessen erstes lautet, analog zum Schma: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (2. Mose 20,2f.). Auch für einen alttestamentlichen Bibelforscher wie W.H. Schmidt eines der Zentren der gesamten hebräischen Bibel. Seinen Synagogengottesdienst feiert das Judentum mit Ende des Jerusalemer Tempels übrigens – wie später die Reformation – als priesterlosen Wortgottesdienst mit Gebet und Gesang.

Gebet

Das Judentum wird auch als Gebetsreligion bezeichnet. Denn der fromme Jude betet nicht nur am Morgen und am Abend, sondern auch das Mittagsgebet, wie überhaupt gerne bei jeder Gelegenheit ein Gebet, ein Segensspruch, ein Tischgebet, eine Beracha (Segenswort) gesprochen wird. Für den schrifttreuen Juden ist das ganze Leben Gottesdienst.

2. Das »wahre Israel«

Wie aber steht es um die Vielgestaltigkeit jüdischer Traditionen? Das Judentum der Erzväter wie Isaak und Jakob (nach dem Israel seinen Namen trägt) war in mancher Hinsicht ein anderes als das Judentum Salomos und Davids. Das Judentum mit Tempel in Jerusalem ein anderes als ohne. Schon innerhalb des Tenachs gibt es immer wieder die Frage, wer zum „wahren Israel“ gehört. Die Geschichts- und Chronikbücher und die Königsbücher bestehen geradezu daraus, zu beschreiben, welcher der Anführer und Könige der Königszeit zum »wahren Israel« zählt, und welche abgefallen sind. Die prophetische Kritik an Missständen ist insofern stets auch „innerjüdische Kritik“, bei der es um das wahre Judentum geht.

Das gilt kollektiv wie individuell. So ist der höchste Feiertag im jüdischen Festkalender der Jom Kippur, der große Versöhnungstag, bei dem der Einzelne im Sündenbekenntnis (vgl. Ps 51,12f; Ps 143,10) Vergebung erlangen und sich auf diese Weise wieder in die Gemeinschaft einfügen kann. Lesung am Jom Kippur ist das kleine, schöne Büchlein des Propheten Jona, das von Gottes Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft gegenüber der abgefallenen Stadt Ninive erzählt. (Schon dies müsste ein klares Gegengift gegen manches hartnäckige Klischee sein, das das Judentum und seinen Gott immer wieder pauschal als unbarmherzig oder unversöhnlich hinstellt…). Der hohe Festtag Jom Kippur wird teilweise zugleich als ein memento mori begangen, als eine Erinnerung an die eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit.

Um Übertretungen der Tora zu verhindern, haben traditionsbewusste Juden eine Art weiträumigen „Zaun“ um die Tora gebaut, etwa zum Einhalten des Ruhetags Schabbat. Nichts soll auch nur in die Nähe eines Verstoßes kommen. Hier will der torafromme Jude dem Schma Israel in seinem vollen Wortlaut nachkommen: „Höre Israel […] Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen […] und davon reden, wenn du zuhause bist oder unterwegs […] und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses“. Viele jüdische Häuser erkennt man im Hauseingang an einer Mesusa, einer angebrachten Kapsel, in der der Text des „Höre Israel“ zu finden ist. Im Hören und Gebet wird das Gebot erfüllt. Eines der bekanntesten Gebete lautet: „Verherrlicht und geheiligt werde Sein erhabener Name in der Welt, die ER nach Seinem Ratschluss geschaffen hat. ER lasse Sein Reich kommen, sodass ihr alle mit dem ganzen Haus Israel in unseren Tagen, bald und in naher Zeit es erleben möget. Darauf sprechet: Amen. Sein erhabener Name sei gepriesen immerdar in Ewigkeit […]“ (Anfang des Kaddisch).

Welches nun ist das »authentische Israel«? Wie durch alle Jahrhunderte steht auch heute das Judentum sich selbst in einer gewissen Vielgestaltigkeit gegenüber. Einem traditionellen „orthodoxen“ Judentum (wie häufiger in Deutschland) begegnet ein Reformjudentum (wie vielfach in den USA). Dazwischen gibt es viele Mischpositionen. Das Judentum in New York stellt sich teils anders dar als das in Russland oder Spanien. Das Judesein im Land Israel anders als in Argentinien…

Schon in biblischen Zeiten hat sich daher die Sehnsucht nach Klarheit, nach einer weithin sichtbaren, eindeutigen Verwirklichung herauskristallisiert. Bei Jesaja wird die Gestalt des wahren „Gottesknechtes“ präsentiert (die berühmten Gottesknechtslieder Jes 42; Jes 49; u.ö.), der Israel aus der Zerstreuung sammelt. In der Figur des leidenden Gerechten Jes 53 wird teils eine Einzelgestalt, teils Israel in seiner Gesamtheit gesehen. Bei dem Propheten Daniel wird die geheimnisvolle Gestalt des „Menschensohns“ beschrieben (Dan 7,13). Als Meschiach, Gesalbter und „Messias“ erwächst so schließlich die verbreitete jüdische Erwartung eines Erlösers.

Gerechtigkeit: Zedaka

Bei der Suche nach dem wahren Jüdisch-Sein wird dann besonders ein Begriff zentral: Gerechtigkeit (zedaka). „Säet Gerechtigkeit“, sagt der Prophet Hosea, wobei Gerechtigkeit (auch übersetzt als Gemeinschaftstreue) zuletzt stets beides meint: Die Gerechtigkeit des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes. (Hos 10,12; 2,21) Denn: „Ihre Gerechtigkeit kommt von mir“ (Jes 54,17).

Barmherzigkeit – „Ich bin, der ich bin“

In dieses Bild fügt sich ein weiterer Leitbegriff des Tenach, die Barmherzigkeit JHWHs (chäsäd; rachamim). Bei der Namensvorstellung, als Mose fragt, in wessen Auftrag er das Volk Israel heraufführen soll, wird ihm einfach ein „Ich bin, der ich bin“ bzw. „Ich werde sein, der ich sein werde“ genannt (2. Mose 3,14). Und später am Berg Sinai wird dann als Name ausgerufen: „HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde…“ (2. Mose 34,5ff).

Erwählung und Verpflichtung („Schöpfung 2“)

Israel versteht sich als das erwählte Volk Gottes. Die Erwählung bedeutet dabei zugleich eine Verpflichtung. Israel wird nicht erwählt, weil es ein besonders großartiges Volk wäre (5. Mose 7,7). Als Erwähltes ist es einzigartig. In gewisser Weise wird Israel identitätsstiftend in der Erwählung geradezu erschaffen (Ps 100; Jes 43,1; „Schöpfung 2“). Für H.D. Preuß bildet dieses erwählende und verpflichtende Handeln JHWHs in der Geschichte die Mitte des Tenach (Theologie des Alten Testaments, Bd. 1).

Die Gestalt des Abraham

In seiner Erwählung wird Israel zugleich zurückgeführt auf die Erzvätergeschichte um Abraham (1. Mose 12ff). Seine Berufung und sein Vorbild im Gottesglauben haben über Jahrhunderte Generationen inspiriert. Für viele ist die Gestalt des Abraham auch aus einer Außenperspektive so eindrücklich und repräsentativ für das Judentum, dass sie sich von einer „abrahamitischen Ökumene“ bis heute Wegweisendes erwarten.

Zuspruch und Verheißung

So bildet der immer wieder erneuerte Zuspruch Gottes an sein Volk (Jes 61; Jer 31,31-34) und die Abrahamsverheißung (Gen 22,18; 12,3; „in dir sollen alle Völker auf Erden gesegnet sein“) eine Art große Klammer, die den Tenach in seinen verschiedenen Traditionsschichten zusammenhält.

3. Vielgestaltigkeit des Judentums

Und wo ist das »authentische Israel« heute? Dass dem Tenach bei der Suche danach eine zentrale Bedeutung zukommt, ist für die Schriftreligion Judentum keine Frage. In den vielfach rezipierten 13 Glaubenswahrheiten des Maimonides (12. Jh.) heißt es: „1. Ich glaube mit voller Überzeugung, dass der Schöpfer, gelobt sei sein Name, alle Geschöpfe erschaffen hat und lenkt […]“. „13. Ich glaube mit voller Überzeugung, dass eine Auferstehung der Toten zu der Zeit stattfinden wird, die dem Schöpfer wohlgefallen wird […]“.

Vom ersten Schöpfungsbericht bis zu den Zukunftsvisionen der Propheten scheint die Geschichte des »wahren Israel« weiterhin nicht abgeschlossen. Schon die Urgeschichte, 1. Mose 1-11, will ja nicht nur Bericht eines fernen Uranfangs, sondern auch aktuelle, archetypische Gegenwartserzählung sein.

Anhang

Mit ihrer Erklärung Nostra Aetate im 2. Vatikanischen Konzil hat die Katholische Kirche das gemeinsame Erbe zwischen Christen und Juden betont. Evangelische Christen gehen dem nach, was ihnen der Jude Jesus, was ihnen der Jude und Schriftgelehrte Paulus und das Zeugnis der anderen vornehmlich jüdischen Zeugen der Urchristenheit zu sagen haben. Eine bedeutungsvolle Aufnahme des Schma Israel im Neuen Testament findet sich im bekannten Doppelgebot der Liebe (Mk 12,29ff; Mt 22,36-40; Lk 10,25ff; vgl. Röm 13,8-10, Gal 5,14).

Zum Weiterlesen

Faltblatt-Reihe: Was jeder vom Judentum wissen muss, 9. völlig neu überarbeitete Auflage, 2005, und zum Vergleich die 5. Auflage von 1990 (z.T. antiquarisch und in Bibliotheken zu finden), beide erschienen im Gütersloher Verlagshaus.

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