Die Qual der Wahl in einer Welt des Wandels Kolumne

16 Jahre Merkel-Kurs haben den deutschen Wählern eine einzigartige Komfortzone beschert. Das Erfolgsrezept lautete: Beständigkeit durch subkutanen Wandel. Mit der kommenden Bundestagswahl öffnet sich ein neuer Entscheidungsspielraum.

Die ideellen Spannungen innerhalb der großen Koalition wurden nicht neutralisiert, sondern in der Mitte der Gesellschaft umgesetzt, was einen breiten Konsens über parteipolitische Interessen hinweg ermöglicht hat. Jetzt muss eine neue Entscheidung her, und das in einer Gesellschaft, die in Blöcke zerfallen ist und sich in ihren Werten immer mehr spaltet. Die Wahl ist damit wieder zum Wagnis geworden. ‚Keine Experimente!‘ warnte Adenauer, ‚Mehr Demokratie wagen!‘ konterte Willy Brandt, der zum Jahreswechsel 1970/71 allen Deutschen „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt!“ wünschte. Davon sind wir heute meilenweit entfernt, denn der Wandel, der einmal Fortschritt hieß, ist einem ganz anderen Wandel gewichen. Da wir jetzt vor diesem Hintergrund zu wählen haben, rufe ich ihn hier in Umrissen noch einmal kurz in Erinnerung.

2015 wurde zum ‚Sommer der Migration‘. Diese Vergangenheit ist Gegenwart geblieben, denn die ikonischen Bilder von Migranten, die an europäischen Grenzen um Aufnahme bitten, begleiten uns weiterhin. Das bedeutet, dass der Begriff der ‚Globalisierung‘ zweischneidig geworden ist. Er steht nicht mehr nur für ein kosmopolitisches Ideal der Überschreitung von Grenzen oder ein neoliberales Ideal der Ausdehnung von Macht und Kapital, sondern zunehmend auch für weltweite Destabilisierungen und das Leid von Menschen, die durch Kriege, Hunger und Dürren gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und anderswo Schutz und eine neue Existenz zu finden.

2016 folgten weitere Zeichen des Wandels: das Brexit-Referendum im Juni und die Trump-Wahl im November. Der neue Nationalismus in der EU und ein persönlicher Politikstil, der fake news zum Dogma erhob, fand im Kontext eines noch viel größeren Wandels statt. Im selben Jahr verkündeten Wissenschaftler das ‚Zeitalter des Anthropozäns‘. Die westliche Zivilisation war ja stets darauf ausgerichtet, mit Begriffen wie ‚Fortschritt‘ oder ‚Modernisierung‘ Wandel zu forcieren. Als ‚Umwelt‘ dieses aktiven Wandels erleben wir inzwischen jedoch einen viel umfassenderen Wandel, den in dieser Form niemand angestrebt hat. Die Menschheit ist dabei zu einer Überlebens-Notgemeinschaft geworden, von der abhängt, ob es überhaupt noch weiterhin eine Zukunft auf diesem Planeten geben wird. Unter den Rahmenbedingungen des beschleunigten globalen Wandels und der engen Verflechtung von Mensch und Umwelt dürfen wir vor allem eines nicht mehr: so weitermachen wie bisher. Denn das größte Risiko liegt heute im Unterlassen.

Angesichts dieser Großwetterlage des globalen und planetarischen Wandels brauchen wir einen Wandel, der bei uns selbst anfängt. Was bedeutet das für den Entscheidungsspielraum, der sich mit der kommenden Bundestagswahl öffnet? Eins ist jetzt schon klar. Es gilt nicht mehr das traditionelle Muster zwischen den Befürwortern eines Status Quo, den sogenannten Konservativen als Verteidigern des Bekannten und Bequemen einerseits und den Modernisierern andererseits als Entdeckern des Neuen und Befürwortern von Veränderung um jeden Preis. Dieses alte Muster zerschellt an der Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit des dramatischen Wandels, in dem wir uns alle längst befinden. Seit globaler und planetarischer Wandel unser Schicksal und unser aller Verantwortung geworden ist, steht eine ganz andere Frage zur Wahl: Wollen wir diesen unkontrollierten Wandel weiterhin begünstigen bzw. passiv erleiden, oder wollen wir möglichst viele Kräfte mobilisieren, um ihn aktiv und solidarisch mitzugestalten?

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