„Christlicher Glaube hat immer eine politische Dimension“ Evangelische Studentengemeinden „1968“ und ihr Verhältnis zu den Landeskirchen

An vielen Hochschulstandorten politisierten sich während der Studentenunruhen auch die Evangelischen Studentengemeinden (ESGn). Die dadurch ausgelösten Konflikte mit den Landeskirchen kreisen um die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche und ihrer Mitglieder.

Gerade Zeiten gesellschaftlicher Veränderung und Herausforderungen prägen oftmals den Charakter und die politische Ausrichtung von Institutionen und Gruppen. Aktuell kann man das beispielsweise an der Protestbewegung „Fridays for future“ und der ihr zugrundeliegenden Politisierung von Schülerinnen und Schülern sehen. Eine vergleichbare Phase des politischen Engagements einer „jungen Generation“ war die sogenannte „68er-Bewegung“, die in ihrer Relevanz für das politische Denken und Handeln der damaligen westdeutschen Studierendenschaft nahezu unbestritten ist.

Gleichzeitig sind auch die Veränderungen und Umbrüche innerhalb des westdeutschen Protestantismus in den 1960er und 1970er Jahre in der kirchlichen, bzw. Kirchen-Geschichtsforschung nachvollziehbar – als Beispiele könnten die 4. Vollversammlung des Weltkirchenrates in Uppsala im Juli 1968 oder das Aufkommen der Politischen Nachtgebete in Köln durch Dorothee Sölle genannt werden. Beides führte zur intensiven Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben, neu definierten Ansprüchen an seine Auslebung und neuen Ideen für die Umsetzung des Glaubens.

Politisierung der ESGn im Zuge der 68er-Bewegung

Würden Studierendenschaft und westdeutsche evangelische Kirche als zwei sich verändernde, aber voneinander zunächst unabhängige Kreise definiert werden, so wären die Evangelischen Studentengemeinden als deren Schnittstelle zu bezeichnen, die – möglicherweise – diese Unabhängigkeit wiederum auflösten. Will heißen: die Impulse, die ESGn aus der Studentenbewegung mitnahmen (Hinterfragen etablierter Strukturen, Forderung nach Partizipation und schlussendlich Emanzipation), versuchten sie in ihre Kirche einzubringen.

An vielen Hochschulstandorten beteiligten sich während der Studentenunruhen, die gemeinhin mit dem Jahr 1968 gleichgesetzt werden, auch die Evangelischen Studentengemeinden. Dabei engagierten sie sich unter anderem in den politischen Auseinandersetzungen um den Vietnam-Krieg, die Notstandsgesetze und die geplante Studien-und Hochschulreform. Sie verfassten selbst Positionspapiere und Flugschriften, unterzeichneten Forderungen von SDS und Asten der jeweiligen Hochschulen und traten damit politisch teilweise erstmals in Erscheinung. Obschon ein gesamtgesellschaftliches Echo hier ausblieb, bzw. quellenbasiert heute nicht mehr nachvollziehbar ist, sorgten das Engagement und konkrete Aktionen der ESGn innerkirchlich, d.h. vor allem auf landeskirchlicher Ebene, durchaus für Diskussionen und Auseinandersetzungen.

Neues Konfliktpotential mit den Landeskirchen

Die ESGn waren damals wie heute Einrichtungen der Landeskirchen, wurden mit landeskirchlichen Mitteln finanziert und meist von Pfarrern geleitet, die von der Kirchenleitung eingesetzt wurden. Durch diesen Umstand war es folglich nicht abwegig, dass das Engagement der ESGn auf Entscheidungsebenen besprochen wurde und ein teilweise reger Briefwechsel zwischen ESG-Pfarrern und Kirchenleitung über Ausrichtung und Ziele der jeweiligen ESG dokumentiert ist. Allerdings ist zu vermerken, dass bis dato die Inhalte der Arbeit der ESGn für die Landeskirchen keinen Anlass zu derart intensiver Betrachtung oder gar Intervention gaben. Im Zuge der Politisierung der ESGn lassen sich nun allerdings zwei Kernthemen festmachen, in denen Konfliktpotential aufgrund unterschiedlicher Auffassungen vorhanden war und besprochen wurde: zunächst die theologische Überzeugung, die in der ESG gelebt wurde, und dann das – für die ESG daraus resultierende – politische Handeln.

Zwei Reiche Lehre vs. Reich-Gottes-Lehre

Weit hinuntergebrochen lässt sich der theologische Konflikt am Gegensatz der damals von der Amtskirche häufig vertretenen Zwei-Reiche-Lehre (strikte Trennung zwischen Kirche und Staat bzw. Tagespolitik) zu der in der ESG eher zu findenden Reich-Gottes-Lehre (Kirche findet sich immer in einer Welt vor, die per se politisch ist) erklären. Die ESG begründete ihr politisches Handeln somit direkt aus dem Evangelium heraus und verfasste dazu eindrücklich achtzehn Thesen zur politischen Verantwortung der christlichen Gemeinde (bspw. EZA Berlin 2/4342). Verfasst wurden sie von der Hochschulkommission der ESGn in der BRD und West-Berlin im Dezember 1967. In der 9. These wird die Überzeugung der Autorinnen und Autoren eindrücklich: „Christlicher Glaube hat immer eine politische Dimension. Gerade da, wo er sich unpolitisch versteht und verhält, ist er politisch wirksam: er sanktioniert jeweils die gewohnte Praxis und die bestehenden Verhältnisse.“ Was die ESG bereits 1967 klar formulierte, musste auf den Ebenen der Amtskirche noch viel diskutiert werden. Nachvollziehbar aufgrund einer breiteren Öffentlichkeit und Wirkungskraft als in den Studierendengemeinden, jedoch natürlich auch Ursprung für Auseinandersetzung.

Amtskirchlicher Widerstand gegen die Politisierung

In West-Berlin (Evangelische Kirche in Berlin und Brandenburg) entspann sich aufgrund der Beteiligung der dortigen ESG an den Studierendenprotesten und der damit einhergehenden „Politisierung“ ein Streit mit dem Gemeindekirchenrat der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (kurz: KWG), der bis auf die Ebene von Bischof Dr. Kurt Scharf geführt wurde. Der ESG wurde die Nutzung der Kapelle der KWG versagt, da befürchtet wurde, die Studierenden könnten ihre Semestergottesdienste für politische Zwecke nutzen. Überdies hinaus wird aus dem Briefwechsel und den Resolutionen, die im Zuge der Auseinandersetzung entstanden, auch deutlich, dass amtskirchliche Gremien die Arbeit der ESG auch auf theologischer Basis angriffen und ihre Relevanz grundsätzlich in Frage stellten (gut nachzulesen in einem von der Berliner Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Publizistik herausgegebenen Büchlein: Berlin, Studenten, Christen. Überlegungen und Stellungnahmen zur politischen Diakonie. Berlin, W. Büxenstein, 1968).

Amtskirchliche Gremien stellten die Arbeit der ESG grundsätzlich in Frage.

Unterstützung der Studierenden durch den Berliner Bischof

Allerdings können keinesfalls eindeutige homogene Gruppen auf beiden Seiten definiert werden. Auf Seite der ESG ist es kaum nachvollziehbar, wie viele Menschen tatsächlich aktiv in den Diskussionen beteiligt waren oder wie gespalten die ESG möglicherweise doch über die Frage nach politischem Handeln war. Anhand zahlreicher gesichteter Quellen entsteht zwar der Eindruck, die ESG habe durchweg als Ganzes und einmütig agiert, allerdings stellt sich auch hier die Frage, wessen Geschichte erzählt wird und wessen nicht.

Auf Seiten der Landeskirche kann differenziert werden und es können Meinungsverschiedenheiten erläutert werden. So ist Bischof Kurt Scharf deutlich als Unterstützer der Studierenden und ihres politischen Denkens zu sehen. Bereits in Folge der Demonstrationen während des Schah-Besuches am 2. Juni 1967 und der Erschießung Benno Ohnesorgs, die gemeinhin als Beginn der Studentenunruhen angesehen wird, verdeutlichte Scharf die Wichtigkeit der Unterstützung der Studierenden durch die Kirche (vgl. hierzu: Wolf-Dieter Zimmermann: Kurt Scharf. Ein Leben zwischen Vision und Wirklichkeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1992).

ESG-Pfarrstellenbesetzung als Zankapfel in Köln

In Köln (Evangelische Kirche im Rheinland, kurz: EKiR) hingegen fand die Politisierung der ESG fast ausschließlich auf einer innerkirchlichen Ebene statt. Zwar gab es auch dort Äußerungen und Stellungnahmen zur Tagespolitik und den Protestursachen, allerdings fokussierte sich das Engagement der Gemeinde selbst auf die Frage nach der Besetzung einer vakanten Pfarrstelle. Der von den Studierenden gewählte Pfarrer Frieder Stichler wurde aufgrund seiner Nähe zum politischen Nachtgebet und der politischen Theologie nicht von der Landeskirche akzeptiert.

Wie oben bereits beschrieben, wurden die ESG-Pfarrer von den Landeskirchen eingesetzt, ein Veto war hier somit zulässig. Allerdings wird aus verschiedenen schriftlichen Quellen deutlich, woran die Kirchenleitung ihr Veto festmachte: Die Besorgnis der Kirchenleitung vor einer (linksgerichteten) Politisierung der ESG durch Pfr. Stichler ist aus Briefen, Protokollen und Gesprächsnotizen herauszulesen. Der Streit um die Pfarrstellenbesetzung war also vielmehr auch ein Streit um die Frage, ob und wie eine evangelische Gemeinde sich politisch äußern darf und soll – vergleichbar also mit dem Streit in West-Berlin und auch anderen Orten, wie Hamburg, Frankfurt am Main oder Marburg.

Emanzipierung der ESG von den Landeskirchen

Generell kann man für das Verhältnis der ESG zur Amtskirche festhalten, dass die Studentenunruhen und die damit verbundene teilweise Politisierung der Gemeinden an den Hochschulen einen Umbruch darstellten, in dem ESG nicht mehr reine ausführende Institution amtskirchlich akzeptierter Aufgaben war, sondern sich emanzipierte und zeitweise eine deutliche Gegenstimme zur Amtskirche wurde.

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