Luthers Pazifismus Inspirationen für eine ökumenische Friedens- und Sozialethik?

In Diskussionen um die Friedensethik – die ja immer das Soziale und das Politische miteinbeziehen sollte – kann ein Rekurs auf Luthers politische Ethik interessant sein: Sie ist durchgehend als pazifistisch zu charakterisieren.

Den Frieden kauft man nie teuer, denn er bringt dem, der ihn kauft, großen Nutzen, meinte Martin Luther: „Man halte Frieden, solange man immer kann (er soll doch wohl nicht bleiben), wenn man ihn gleich um all das Geld kaufen sollte, das auf den Krieg gehen und durch Krieg gewonnen werden möchte. Es erstattet doch nimmer der Sieg, was verloren wird durch den Krieg“ (WA 31 I, 203,25–204,3). Denn nur in und aus Friedenszeiten erhält und hat ein jeder Leib und Leben, Frau und Kind, Haus und Hof, Gesundheit und Wohlstand… Darum „ist wohl ein halbes Himmelreich, wo Frieden ist“. Es stellt so für Luther, wie er in seiner Predigt, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530) postuliert, Frieden das höchste Gut auf Erden dar.

Zustand immerwährenden Friedens

Ausgangspunkt für Luthers friedenstheoretische Überlegungen ist die Bergpredigt. Also das klassische Bild des guten Menschen, so, wie wir das alle kennen: Jeder verträgt sich mit jedem, ist hilfsbereit, alle leben in Harmonie (Röm 12,18), niemand wird übervorteilt, oder falls doch, duldet er oder sie es in Geduld (Röm 12,17). In einer solchen Gemeinschaft geht es allen wohl. Es herrscht immerwährender Friede: ein gewünschter Idealzustand, dem aber – auch wenn sich das kaum jemand vorstellen kann – manchmal doch Abbruch getan wird. Diese Bruchstelle ist systematisch gesehen der Punkt, an dem Luthers theologische Friedensethik einsetzt.

Die Erhaltung von Friede und die Vermeidung von Gewalt ist Luthers durchgehende Maxime. Für Christen gelte es stets, „zum Frieden helfen und raten“. (In Zeiten, in denen Bellizisten die Oberhand haben, hat eine solche Haltung jedoch einen schweren Stand.) Gemäß der bekannten Regel, die andere Backe hinzuhalten (Mt 5,39), will er als Christ lieber Unrecht leiden, als zurückzuschlagen. Und mit Mt 5,9 gelten ihm die als selig, die da Frieden stiften.

Rechts-Pazifismus

Was sind Pazifisten? Also diejenigen, „die den Frieden machen“ (lat.: Pacem facere)? In der Neuzeit sind es sehr verschiedene Gruppierungen, die so genannt werden. Wie die Friedensgesellschaften des 19. Jh.s (vgl. evangelische aspekte 4/2014, Pazifismus ist nicht gleich Pazifismus), denen auch die Friedensnobelpreis-Trägerin Bertha von Suttner zuzuzählen ist. Sie vertreten eine Art „Rechts-Pazifismus“. Dieser versucht, wo immer möglich Krieg zu vermeiden und eine überregionale Friedensordnung zu etablieren. „Eine grundsätzliche Ablehnung militärischer Gewalt war aber mit alledem nicht verbunden. Das Recht von Staaten, sich im Falle eines Angriffs auch militärisch zu verteidigen“, stand dabei nicht in Frage (ebd.). Hervorgehobenes Ziel dieses Pazifismus ist die überterritoriale Sicherung von Frieden, gegründet auf ein ebenso überterritoriales Recht. Etwa im Umfeld dieser Positionen lässt sich auch Luthers Pazifismus verorten.

Ethik rechtserhaltender Gewalt

In seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523) stellt Luther die Grundlinien seiner friedenspolitischen Ideale vor. Wichtiger Anlass ist der Umstand, dass im benachbarten Herzogtum Sachsen der Kauf von Luthers eben erschienener Bibelübersetzung untersagt wurde. Keine solitäre Entscheidung: In Bayern und Brandenburg ergingen ähnliche Verbote; Papst Paul II. hatte generell Bibeln in den Volkssprachen verboten. Heute ist man in der Katholischen Kirche Gott sei Dank weiter. Denn heute darf ja jede und jeder die Bibel in der Landessprache lesen. Luther setzte sich also für ein heute ökumenisch anerkanntes Recht ein, dass jeder seine volkssprachliche Bibelübersetzung haben und behalten soll.

Aber was tun, wenn dieses Recht bestritten wird? Luther räumt seinen Lesern ein passives Widerstandsrecht ein: Freiwillig zurückgeben sollen sie bereits erworbene Bibelausgaben nicht. Falls sie mit Gewalt weggenommen werden, ist es hinzunehmen und zu dulden.

Wie schon bei der Forderung nach gleichberechtigter Schulpflicht für Mädchen wie Jungen oder bei der Einführung des Gottesdienstes in der Landessprache erweist sich Luther auch hier als scharfsinniger Schriftausleger und eindrücklicher Dialektiker (Dialektik im Sinne der freien Künste als logisch begründendes Argumentieren). Insgesamt zu beachten ist, dass viele Schriften Luthers als Volksschriften angelegt sind. Sie wenden sich an eine breitere Leserschaft, was sich deutlich in Luthers Stil niederschlägt. Beim heutigen Lesen mag daher manche oder mancher den Eindruck gewinnen, die Texte stammten direkt aus dem Mittelalter… Luther weiß recht gut, für welche Zeit er schreibt, und so setzt er für seine Leserschaft auch manch plastisches Beispiel ein. Ebenso ist zu bedenken, dass diese Texte meist eher unter Zeitdruck in viel Arbeitsgedränge entstanden sind und seltener in ruhigen Minuten eines am Schreibtisch seinen weitläufigen Gedanken nachhängenden Akademikers.

Selbstjustiz oder Einhaltung des Rechtswegs?

Der einzige Kriegsgrund, den Luther anerkennt, ist Notwehr. Leitende Texte der Ethik sind für ihn neben der Bergpredigt und Unterweisungen wie Römer 12–15 insbesondere die Zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe. Der Reformator schreibt dabei zu einer Zeit, in der eine Entwicklung weg von einfachem Faustrecht oder Selbstjustiz hin zu mehr formalisierter Rechtlichkeit (erst) im Gange ist. So etwa mit der versuchten Abschaffung des Fehdewesens durch den 1495 von Kaiser Maximilian verfügten Ewigen Landfrieden. Womit „Landfriedensbruch“ unter Strafe gestellt ist: Streitparteien mögen stattdessen den „Rechtsweg“ mit den zugehörigen Rechtsmitteln nutzen, z.B. beim Reichskammergericht.

Luther als Friedensliebhaber stützt diese Rechts-Entwicklung. Schon in seiner Ermahnung an alle Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522) hatte er gefordert, von gewaltsamen Aktionen abzusehen. Theologische und kirchliche Auseinandersetzungen sind demnach einzig mit dem Wort auszufechten. „Lasset die Geister aufeinanderplatzen … aber die Faust haltet stille“.

Luther: Friede als das höchste Gut

Für viele, die mit Ernst Christen sein möchten, ist es ja eine Anfechtung, dass es in der Welt generell so etwas wie Kriegsdienst überhaupt gibt! Wir hatten eingangs den gewünschten Idealzustand gesehen. Aus diesem Grund ist im Lauf der Kirchengeschichte manch gutmeinende Gruppierung entstanden, die ihren Mitgliedern verbietet bzw. abrät, Kriegs- und Waffendienst zu leisten. Wie etwa die in vielem liebenswürdigen Waldenser. Demgegenüber lehnten die Verbände der Bauernerhebungen im 16. Jahrhundert den Einsatz von Waffen nicht grundsätzlich ab – die Bauern waren keine Pazifisten… Wenn Luther die bewaffnet voran stürmenden Bauern in seiner Ermahnung zum Frieden (1525) auffordert, sie mögen doch bitte „den Rechtsweg einhalten“, klingt das nicht nur für heutige Ohren vielleicht markant mit einer gewissen Komik, war aber genau im Sinne einer Rückbesinnung gemeint. Luther vertritt im Grundsatz eine Ethik passiv rechtserhaltender Gewalt, wie sie auch heute diskutiert wird. Er ist an dieser Stelle nur, wie bei manchem Thema, in manchen Zirkeln etwas falsch „gelabelt“, mit einem nicht ganz zutreffenden „Label“ (Marke, Zuschreibung) versehen.

Gab es indes tatsächlich keine anderen Partizipationsmöglichkeiten für die Bauern? Eben erst hatten die Wittenberger mit Ordnungen einer gemeinsam verwalteten Gemeindekasse eine zukunftsträchtige Institution vorgeschlagen und langfristig auch durchgesetzt. Die gemeinsame Kasse (vgl. den bis heute allseits begehrten Vorsitz über die Finanzen) wird laut Modellvorlage der Leisniger Kastenordnung (1523) von zehn Mitgliedern verwaltet: Von drei Bürgern, drei Bauern sowie zwei Stadträten und zwei Adligen der Stadt. Die Bauern gehören hier also neben und mit den Bürgern zu den zahlenmäßig am stärksten vertretenen Gruppen. Das hätte und hatte viel Potenzial für die friedliche und nachhaltige rechtliche wie soziale Aufwertung der Bauern und ihrer Mitstreiter gehabt!

Selig die den Frieden machen (Mt 5,9)

Zur rechtserhaltenden Gewalt gehört, dass es eine öffentliche Gewaltinstanz gibt, die die äußere Ordnung verteidigt und schützt. Luther setzt hier mit Röm 13 ein. Diese rechtserhaltende Gewalt (neben Polizei- auch Wehr- und Kriegsdienst) hat dann auch in christlicher Sicht ihre Berechtigung. In Zeiten jedoch, in denen überall Frieden herrscht, hat so ein Hinweis einen schweren Stand.

Friedensförderung

Luther schreibt: Man lasse einen jeden glauben „wie man kann oder will“ (WA 11, 264, 18f), denn zum Glauben „soll und kann man niemand zwingen“. Eine Haltung, die er zeitlebens beibehält. Man kommt kaum umhin zu attestieren, dass Luther damit im Grundsatz den modernen Verfassungsartikel der Religionsfreiheit (vor)formuliert. Und das in einer Zeit, in der manche damit liebäugelten, die in vielem durchaus „aktive“ Spanische Inquisition auch hierzulande durchzusetzen. Der spanische König – Karl V. – war ja frisch zum Kaiser gewählt.

Man kann somit schön erkennen, wie Luther – obwohl er hier klar die modernen Verfassungssätze des 19./21. Jh.s vertritt – sich dennoch aus Liebe, Nachsicht und Rücksicht auf seine Zeitgenossen zurückbeugt und sich aus reiner Nachsicht und Rücksicht auf die Argumentationslinien seiner Zeit einlässt. Ja vielmehr, sich natürlich einlassen muss – da er ja nicht im leeren Raum schreibt und eben noch nicht im 21. Jh. lebt und sitzt.

„Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet“ (C.F. Meyer), d.h. indem er in etlichen Gebieten bereits weit nach vorn weisende Standards setzt oder zumindest nennt, muss er zugleich noch mit den vorherrschenden Beharrungskräften geistlich ringen. Es gilt also, Luther nicht ahistorisch zu betrachten und zu bewerten, wie das leider ab und an geschieht. Dass er dennoch die nach seiner Ansicht richtigen Glaubensgrundsätze nach Kräften fördert, versteht sich dabei von selbst.

Bekanntlich verficht heute auch die Katholische Kirche den Gedanken allgemeiner Religionsfreiheit. Man kann also bar jeden Vorwurfs oder Anachronismus sagen, dass Luther an dieser Stelle weit vorgreifend sehr ökumenisch verbindend auftritt und formuliert. Dass Luthers Ansatz sich dabei nicht sogleich realisieren und durchhalten ließ (den Zeitgenossen schien so eine Vorstellung weithin fremd), war bald klar. Auch im Mittelalter ist zwar manches hell, aber es gibt doch Orte, wo es bis heute zurecht als „finster“ wahrgenommen wird. Schon bis nur der lutherische Glaube reichsrechtlich anerkannt werden würde, dauerte es bis ins Jahr 1555 (Augsburger Religionsfriede). Bis auch nur ein Drittes Anerkennung fände bis 1648 (Westfälischer Friede).

Luther lehnt dabei Religions-, Glaubens- oder Konfessionskriege kategorisch ab. Eine Abwehr der herannahenden Osmanen ist für ihn einzig aus dem Notwehr- und Verteidigungsrecht begründet und hat mit Religionsfragen oder Glaubenssätzen nichts zu tun. Auch als sich Luther um 1530 von Juristen überreden lässt, dass die inzwischen evangelischen Territorien ein Schutzbündnis schließen, lässt er maximal ein Verteidigungsrecht gelten.

Zu Luthers Lebzeiten ist denn auch von Wittenberg bzw. kursächsischem Gebiet kein einziger Krieg ausgegangen. Es ist nach Luthers Tod dann die Seite Karls V., die 1546 allerdings Kriegshandlungen initiiert.

Ökumenische Friedens- und Sozialethik

Deshalb ist es bleibend bedeutsam und bemerkenswert, dass es 2017 zahlreiche ökumenische Vergebungs- und Versöhnungs-Gottesdienste gab mit der Intention eines „Healing-of-memories“. So wie sich die Katholische Kirche in vielem gewandelt hat, so gibt es heute auch in der Sozial- und Friedensethik viele gemeinsame Ansatzpunkte, die inspirierend wirken können. Nicht zuletzt in der allseitigen Betonung von Barmherzigkeit gibt es viel Verbindendes: Papst Johannes Paul II., der sicher zurecht Luther als einen großen Glaubenslehrer bezeichnete, hat z.B. im katholischen Kirchenjahr den Barmherzigkeits-Sonntag eingeführt.

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