Theorie und Praxis der Unbildung Warum Bildung nicht durch Kompetenzerwerb ersetzt werden kann

Vor einem Vierteljahr löste eine Kölner Gymnasiastin eine anhaltende Diskussion in den Medien aus. Sie sah sich von der Schule verschaukelt, weil sie zwar gelernt habe, Gedichte zu analysieren, aber weder eine Steuererklärung abzufassen noch mit einem Mietvertag zurechtzukommen. Der folgende Artikel hält dagegen: Die Schule und erst Recht das Studium haben andere Aufgaben, als ein vordergründiges Nützlichkeitsdenken und Schüler-„Bedürfnisse“ zu bedienen.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, lautet eine alte Fußball-Trainer-Weisheit. Das kann bedeuten, dass man sich nach einem siegreichen Match nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen darf, oder es nach einer desaströsen Vorstellung beim nächsten Mal besser zu machen verspricht. Diese Einsicht haben sich wohl die Bildungsreformer, Bildungsexperten, Bildungsberater und Bildungspolitiker zu eigen gemacht, indem sie unter dem Motto „Nach der Reform ist vor der Reform“ atemlos eine Reform nach der anderen durch Schulen und Universitäten peitschen – unter Inkaufnahme gestresster, desillusionierter, aufgebrachter Lehrender und Lernender sowie ihrer Eltern als Kollateralschaden. So wechseln seit vielen Jahren sogenannte Bildungskatastrophen und Reformhysterien zuverlässig einander ab wie Tag und Nacht – nur dass nichts wirklich besser, sondern eher alles schlechter wird. Dieses Bild ergibt sich, wenn man dem österreichischen Essayisten, Literaturkritiker und Kulturpublizisten Konrad Paul Liessmann folgt, der in den letzten Jahren zwei einschlägige Bücher zum Thema veröffentlicht hat:

  • Theorie der Unbildung, Piper, 9. Auflage 2014, Paul Zsolnay Verlag Wien 2006 (im Folgenden zitiert als Theorie)
  • Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung, Paul Zsolnay Verlag Wien 2014 (im Folgenden zitiert als Praxis).

Muss man überhaupt noch etwas wissen?

Als Professor an der Universität Wien lehrt Liessmann Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik, ein Mann mit übersprudelndem Wissen, scharfer Zunge, manchmal provozierendem Stil und – ganz bestimmt – umfassender Bildung. Eine seiner rhetorischen Attacken wendet sich gegen die viel propagierte Annahme, man brauche heutzutage nichts mehr zu wissen, lediglich zu wissen, wo etwas stehe, also gegen die Vernachlässigung von (gewussten) Inhalten. Er wirft der „Wissensgesellschaft“ (bzw. „Informationsgesellschaft“) vor, sie sei eigentlich eine „Desinformationsgesellschaft“.

Am schlimmsten aber findet er die Ineinssetzung und damit fahrlässige Verwechslung von Wissen und Bildung. Was aber wäre Bildung? Welche Art von Wissen wird in unseren europäischen, den neoliberalen ökonomischen Gesetzen des freien Marktes unterworfenen Gesellschaften geschätzt und gefördert und welche vernachlässigt? Und welche Schuld tragen „PISA“ und „BOLOGNA“ an der scheinbar unendlichen Geschichte reformpädagogischer Prozesse, die in Liessmanns Augen Fehlentwicklungen sind? Ein Feuerwerk von Fakten, Analysen und Abrechnungen hat der streitbare Philosoph in seinen beiden Büchern gezündet.

Ökonomisierung der Gesellschaft – Kapitalisierung des Geistes

Liessmann schiebt den schwarzen Peter für das Problem unserer „Unbildung“ weniger dem einzelnen Menschen zu – als wäre dieser zu faul, sich wirklich zu bilden – noch einer versagenden Bildungspolitik. Der Kern des Problems liege tiefer: in dem ökonomischen Strukturgefüge unserer Gesellschaft, die auch den Geist den Verwertungsinteressen des Kapitals unterwerfe; deshalb sei „Unbildung die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes“ und „unser aller Schicksal“ (Theorie, S. 10). Darunter hätten in direkter Weise die Geisteswissenschaften zu leiden, da diese – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften – nicht unmittelbar technologisch anwendungsorientiert und von Nutzen – sprich: Profit bringend – seien.

Darunter nehme aber auch die Idee der Universität als universitas litterarum (Gesamtheit der Wissenschaften), als Volluniversität also, Schaden. Denn in Zeiten knapper Staatskassen würde in erster Linie bei Fakultäten und Fächern gespart, die im wissenschaftlich-technischen Komplex keine Rolle spielen. In einem weiteren Sinne würden sich die Universitäten dadurch immer mehr in „Unternehmen” verwandeln, von Stätten wissenschaftlicher Bildung herabsinken zu gehobenen Ausbildungsstätten beruflicher Fort- und Weiterbildung, nicht mehr geprägt durch die traditionelle Einheit (und das Humboldt’sche Ideal) von Forschung und Lehre.

Die Universität als „Unternehmen“ und herabgesunkene Ausbildungsstätte

In diesen Ausbildungsstätten – und bereits zuvor in den Schulen – treibe die „Praxis der Unbildung“ ihr Unwesen in den Tagesstunden der Unterrichtszeit als „Geisterstunde“ (Praxis, S. 10). Dort würden kaum mehr Inhalte vermittelt, die sich aus einem wie auch immer definierten Bildungskanon speisten, umso mehr aber kontextlos und fachübergreifend und frei von „Wissensballast“ „Kompetenzen“. Diese seien angeblich an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert, alltagsrelevant, an spätere berufliche Brauchbarkeit geknüpft, jederzeit messbar und effizient und durch die alle drei Jahre stattfindenden PISA-Texts standardisiert und international vergleichbar. Was für Liessmann jedoch auf nichts anderes als eine Bildungsillusion hinausläuft, auf „Abrichtung, Anpassung und Zufriedenheit durch Konsum“ derer, denen der Staat durch seine öffentlichen Schulen und Universitäten doch Bildung schuldet. So werde Wissen selbst zu einer Ware (gerne wird auch das Wort „Ressource“ verwendet) und Äußerlichkeit und abgelöst von seinem traditionellen Verständnis in der europäischen Tradition als „wahre, gerechtfertigte Überzeugung“ (Theorie, S. 45), also ein innerer Besitz, den man sich in gewissem Umfang und exemplarisch zugleich, in Muße und in mühevollen Stunden, in geistiger Auseinandersetzung angeeignet hat.

Kompetent konsumorientiert, abgerichtet und angepasst

Diese „Kompetenzorientierung“ der Lehrpläne ist für Liessmann ein dauerhafter Stein des Anstoßes. Ihre Zielworte sind Fähigkeiten wie Teamfähigkeit, Mobilität, Belastbarkeit, Flexibilität. Man kann sie in fast jeder Stellenausschreibung, ob für einen Friseurlehrling oder eine wissenschaftliche Assistenz, finden, für alles und jedes eben. Autonomie, individuelles Denken, Persönlichkeit, unabhängiges Urteilsvermögen – das klassische Prägemuster eines gebildeten Menschen hat sich verflüchtigt. Verloren gegangen ist damit nichts weniger als ein Begriff von Bildung, der in der Menschenwürde seinen Dreh- und Angelpunkt hatte. Demgegenüber stehe jetzt „der umfassend kompetent gewordene Mensch“ (Praxis, S. 45), der fähig ist, Probleme unterschiedlichster Art erfolgreich zu lösen.

Damit werden Unterrichtsinhalte mehr oder weniger beliebig. Lesekompetenz im Deutschunterricht zum Beispiel kann an einer Gebrauchsanweisung für den Umgang mit dem iPhone ebenso erworben und demonstriert werden wie an Goethes Faust oder – weil klassische Texte im Original ja angeblich nicht mehr zumutbar sind – an dessen sprachlich abgespeckter und gekürzter Version. „Phänomenologische Kompetenz“ im Philosophieunterricht bedeutet nicht mehr, eine „Ahnung von der philosophischen Richtung der Philosophie“ Edmund Husserls zu bekommen, sondern in der Lage zu sein, „eigene Bewusstseinszustände mitzuteilen“. Und man muss beispielsweise keinen einzigen Gedanken der Bibel, kein Wort der Bergpredigt jemals gelesen, sich mit keiner Zeile von Karl Marx oder John Rawls im Ethikunterricht auseinandergesetzt haben, um mit „moralischer Urteilskompetenz“ Fragen der Gerechtigkeit zu diskutieren – denn darüber schreibt ja auch die Boulevardpresse allerhand. Schlussendlich könne man sich zumindest Teile des Geschichtsunterrichts sparen „durch eine Exkursion in Steven Spielbergs Film Schindlers Liste“ (Theorie, S. 70), macht Liessmann seiner Empörung über die Vernachlässigung von Inhalten Luft.

Fachliche Qualifikation steht erst an zweiter Stelle

An der Universität könne man dann die Folge dieses didaktischen Irrsinns, nämlich seine Übertragung auf die Lehrerausbildung beobachten. Denn die Konzeption der Lehramtsstudien räumt in Deutschland und in Österreich den „pädagogischen, sozialen und didaktischen Kompetenzen einen Vorrang gegenüber der fachlichen Qualifikation“ ein (Praxis, S. 57). Sie mache aus dem Lehrer, einer Autorität des (Fach-)Wissens, einen Berater von Schülerinnen und Schülern, wenn diese – etwas ironisch und polemisch gesprochen – einen Anlass sehen, nach geeigneten Informationen zur Beantwortung einer sich für sie in Alltagszusammenhängen ergebenden Frage zu suchen – weil es ja nur noch darauf ankommt zu wissen, wo Wissen (digital) archiviert ist und auf Knopfdruck verfügbar gemacht werden kann. „Der Lehrer wird zum Coach, zum ‚Lernbegleiter‘, der Schüler wird zum ‚Lernpartner‘“ (Praxis, S. 39), der zuweilen mit provozierender Begeisterung in Pink Floyds Klassiker (Another Brick in the Wall) einstimmt: „We don’t need no education, we don’t need no thought controll… teachers leave them kids alone“ – lasst die Kinder in Ruhe!

Von der pädagogischen Bedeutung der Neugier

Der Erwerb formaler Fähigkeiten an beliebigen Inhalten zerstört allerdings die Grundvoraussetzung jedes Bildungsprozesses: die menschliche Neugier. Wem nur lange genug zurückweichendes Verständnis für seine widerstrebende und jeglicher Anstrengung abholden Frage entgegengebracht wurde – „Wofür brauche ich das denn? Warum soll ich das wissen oder können?“, ob es sich um (höhere) Mathematik oder eine „tote“ Sprache wie Latein oder ein Werk der klassischen Literatur handelt –, der kann auch keine Neugier mehr auf etwas entwickeln, was er nicht immer schon irgendwie und quasi nebenbei im Vollzug seines Lebens selbst erfahren hat. Neugier entsteht – oder kann zumindest entstehen – nur im Sich-Einlassen auf das Unbekannte, in vielen Fällen unter Überwindung der Anfangsschwierigkeiten. Und wer anders sollte die Funktion des Neugierig-Machers übernehmen als die Lehrerin, die eben diese Erfahrung ihren Schülern voraus hat und in den Unterrichtsprozess glaubwürdig fruchtbar einbringt? „Genau um diese Faszination“, meint Liessmann, „die von einer Sache, einem Thema, einem Buchtitel, einer Frage ausgehen kann, werden kompetenzorientiert unterwiesene Kinder und Jugendliche gebracht“. Und weit darüber hinaus: „Sie werden damit um die Chance betrogen, überhaupt ein substanzielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können.“ (Praxis, S. 53).

Liessmann hält die Ausrichtung der Schule am Leben, die die Unterrichtung angeblich „weltfremden“ Wissens zugunsten von Fertigkeiten und Fähigkeiten überwinden soll, die „nützlich“ sind und den Schüler-„Bedürfnissen“ entsprechen, für den pädagogisch-didaktischen Sündenfall – und fordert eine Distanz der Bildung vom Leben. Er erinnert  an den wörtlichen Sinn von Schule, über das lateinische Wort schola vom griechischen schole in unsere Sprache gekommen: „Innehalten in der Arbeit“ (Theorie, S. 62). Daher sollten die Schulen wieder als Stätten der Freiheit, „frei vom Zwang zur Nützlichkeit, zur Praxisrelevanz“, begriffen werden. Die Ersetzung der Pädagogik (Erwachsene führen junge Menschen) durch „Bioagogik“ („Lebensführung“) unterstelle bei jungen Menschen eine Mündigkeit, die ihnen von sich aus eben gerade nicht eigen sei.

Bildung als Mündigkeit

Mündigkeit im Anschluss an Kant ist aber Ausdruck, ja, Synonym von Bildung und eigentliches Lernziel der modernen, das heißt dem Geist der Aufklärung verpflichteten Schule. Eine solche Bildungsstätte mutet jungen Menschen zu, sich an der Auseinandersetzung mit „Fremderfahrungen“ zu bilden, und sich selbst „die zentralen Erkenntnisse und Ergebnisse von einigen Jahrtausenden menschlichen Strebens nach Wissen zu bündeln, zu systematisieren und zu vermitteln“ (Praxis, S. 40). Freilich werden Vermittlung und Erwerb – begibt man sich jetzt auf das Feld der Universität – solcher Bildung nicht im Schnelldurchgang möglich sein. Weil aber die BOLOGNA-Reform in Liessmanns Analyse – etwas kurz gesagt – das Studium durch seine Zergliederung in Bachelor-, Master- und Doktoranden-Studium in Bezug auf seine Wissenschaftlichkeit und im Interesse eines höchst zweifelhaften höheren Outputs an Akademikern gründlich dequalifiziert und als Eilverfahren zur Gewinnung von Europa-weit mobilen Fachkräften für die „zukunftsweisenden“ Industrien und ihre Verwertungsinteressen etabliert hat, hält er sie für misslungen – dem lauten Ruf der Wirtschaft nach berufsfähigen Abschlüssen entsprungen, „einem modischen Praxisfetischismus“ (Praxis, S. 26) verpflichtet.

Bildung ist mehr als die Verkörperung des „umfassend kompetent gewordenen“ Menschen.

Bildung ist mehr und (noch) etwas anderes als die Verkörperung des „umfassend kompetent gewordenen“ Menschen. In Anlehnung an den Berliner Philosophen Peter Bieri definiert Liessmann Ausbildung als Aneignung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, die „im Hinblick auf die Einsetzbarkeit des Menschen für verschiedene Zwecke vermittelt und geübt werden“ (Praxis, S. 129). Demgegenüber sei Bildung eine Seins-Orientierung; für Wilhelm von Humboldt – in seiner Theorie der Bildung des Menschen – „die letzte Aufgabe unseres Daseyns“ (Theorie, S. 55). Identifiziert Bieri Bildung (wir bilden uns nur selbst, von anderen werden wir ausgebildet!) als „Selbstorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein, Ausdrucksfähigkeit, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität und poetische Erfahrung“, folgt Liessmann ebenfalls dem humanistischen Konzept. Dessen Ziel ist es, uns aus der Unmündigkeit zur Autonomie zu befreien, klassisch bei Immanuel Kant : „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Wider das Diktat der Verwertbarkeit und Nützlichkeit

Gelingen werde das nur demjenigen, der in einen intensiven Dialog mit „paradigmatischen Inhalten“ trete, die nicht „dem Diktat einer aktuellen Verwertbarkeit gehorch(t)en“. Nicht demjenigen, der sich einem „kapitalisierten Geist“ unterwirft, sondern sich an jene „Objektivationen“ des Geistes hält, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den Überlieferungen von Kunst, Religion und Wissenschaft uns gegeben sieht – als Gegenstand der „Allgemeinbildung“ und Medium der „Persönlichkeitsbildung“, durch die der Mensch erst zu einem Individuum wird. Geradezu abschreckend und nach ewig gestrig muss es in den Ohren aller zeitgeistiger Bildungsmanager klingen, wenn Liessmann als höchsten Wert solcher (eben nicht „wettbewerbsorientierter“) Bildung ihre gänzliche „Nutzlosigkeit“ und „Zweckfreiheit“ betont, die man allein um ihrer selbst willen erstrebt. Eine solche Absicht – und Seins-Orientierung – erinnert an den Beter des 2. Psalms, von dem es heißt, er habe „Lust am Gesetz des Herrn und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht. Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das gerät wohl.“ Im Vollzug dieser Haltung macht der Mensch das, was in einem eindringlichen Sinn ästhetische Erfahrung genannt wird.

Verstehen wir Bildung (wieder) als die dem menschlichen Wesen entsprechende und „letzte Aufgabe unseres Daseyns“, so führt sie uns zum Ziel der „sophia“, zur Weisheit als Resultat, das bestenfalls als Bündel von Einsichten, Erfahrungen und – ja auch – von Kompetenzen am Ende eines geistvoll geführten Lebens steht. „Ein Bildungsbegriff, der sich ganz an der Idee der Nützlichkeit orientiert, vergisst, dass Menschsein mehr bedeutet, als beschäftigungsfähig zu sein“ (Praxis, S.180) .

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