Vater unser Themensammlung und Gebetsanleitung

Das Vaterunser ist das wichtigste Gebet der Christenheit. Es wird weltweit verbindend über alle Denominationen hinweg gesprochen.

Das Vaterunser ist das bekannteste und das am weitesten verbreitete Gebet der Christenheit. Es wird in Ost und West, in Nord und Süd in fast jedem Gottesdienst gesprochen. Millionen von Menschen beten so täglich zum Morgensegen und zum Abendsegen. Nicht selten häufiger. Das Vaterunser gilt neben den Psalmen als das jüdischste Gebet der christlichen Welt, welches ganz ähnlich ein Rabbi sprechen könnte. Seit den Ursprüngen verbinden diese Gebetsworte unzählige Generationen im selben Geist. Nicht wenigen gelten sie als die kompakteste Zusammenfassung dessen, was Jesus lehrte. Es lohnt sich also, immer wieder neu zu prüfen und immer neu auszuschöpfen, was mit dem Vaterunser gesagt ist.

Abba – das Gebet Jesu

„Und es begab sich, dass er an einem Ort betend war“, erzählt das Lukasevangelium, und als er geendet hatte, entsteht aus dem Jüngerkreis die Bitte: „Herr, lehre uns beten“. Worauf Jesu Antwort lautet: „Wenn ihr betet, so sprecht: Vater…“ (Lk 11,1)

Schon die Vater-Anrede ist ein Signal. Zu Recht wird von Auslegern aller Zeiten betont wie ungewöhnlich, markant und auch wie ursprünglich diese Gebetsanrede klingt. Denn die Wortwahl „Abba“ entspricht tatsächlich der erwartungsvoll-vertrauensvollen oder ängstlich-fragend, rufenden Vateranrede des – am Anfang vielleicht nur stammelnden – kleinen Kindes. Im Deutschen kommt „Papa“ dem durchaus nahe.

Die allgemeinere Gottesanrede Vater ist auch sonst in Israel und in der Zeit des Alten Orients belegt (vgl. z.B. nur Ps 89,27). Wie prägend Jesu Anrede schon als solche ist, lässt sich noch zwei weiteren Stellen des Neuen Testaments entnehmen, wenn dort eben dieses aramäische Wort Abba mitten im griechischen Text verwendet ist: „Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, sodass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Röm 8,15) Sowie: „Gott sandte den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, den Geist, der ruft: Abba, Vater.“ (Gal 4,6) Beide Stellen dürften direkt auf die Gebetspraxis des Vaterunsers in der Urgemeinde zurückweisen.

Die sieben Namen Gottes

Zu den verschiedenen Bezeichnungen und Namen Gottes im alten Israel, wie: der Höchste, der Lebendige, der Seiende / „ich bin“, der Ewige, der Heilige, die nicht zuletzt eine unüberwindliche Distanz im Gegenüber von Gott und Mensch zum Ausdruck bringen, tritt also mit Abba ein Wort, das eine ungeheure Nähe aussagt.

Vater unser

Das „unser“ ist eine „Attacke auf die Einsamkeit“ (Okko Herlyn: Das Vaterunser. 3. Aufl. 2020). Indem der Beter und die Beterin nicht eingrenzend mein Vater sagt – obwohl je nach Situation auch diese Gottesanrede möglich ist –, sondern unser, ist der weite Horizont der Gemeinschaft enthalten, in den man sich mit dem Herrengebet stellt: Das Vaterunser spricht man nie alleine. Zeitgleich (ganz real) und zeitlich nach vorne wie zeitlich zurück weisend sprechen es stets viele andere Beterinnen und Beter, gleichlautend, gleichsinnig, mit.

im Himmel

Während im „unser“ (so der Gebetseingang im Matthäusevangelium) der genannte Aspekt der Nähe enthalten ist, markiert „im Himmel“ die bleibend respektvolle Distanz. Dass der Vater im Himmel ist, ist gleichwohl für einen Beter im Alten Orient pure Selbstverständlichkeit. Und dass es unser Vater ist, ergibt sich ja, sobald es mehr als einen Beter gibt. Beide Ergänzungen zu „Vater“, die wir in der Matthäusfassung (Mt 6,9-13) finden, sind insoweit inhaltsgleich zur Lukasfassung und sagen genau dasselbe. Nur ist es einmal empathisch kürzer (Abba!), einmal präzisierend ausführlicher gesagt.

In der kompakten Fassung bei Lukas (Lk 11,2-4) lautet das Gebet:

Abba! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. Und führe uns nicht in Versuchung.

Die etwas längere Fassung bei Matthäus könnte darauf hinweisen, dass hier eine Gebetsfassung vorliegt, wie sie etwa in Gemeindeversammlungen gebetet wurde. Wir finden bei Matthäus noch zwei weitere Ergänzungen, die ebenfalls erklärend ausführen, was in der kürzeren Lukasfassung schon enthalten ist (siehe unten). Versteht man das Vaterunser weniger als eine Formel, die aufgesagt werden soll („Ihr sollt nicht plappern“), sondern als eine intendierte Gebetsanleitung („So und um diese Dinge bittet“) dann zeigt das Vaterunser auch darin seinen Charakter als eine Themensammlung (Günter Unger), die zu einer intensiven Beschäftigung mit eben dem in den Bitten Thematisierten führen will. Im Sinne von: Wenn ihr betet, dann legt eurem Vater im Himmel diese Angelegenheiten mit großer Ernsthaftigkeit und mit vollem Zutrauen der Erhörung vor! Dass dann je nach individueller Lage, einmal diese, einmal jene Bitte dringlicher ist, stärker betont, und auch mit mehr und noch weiteren Worten vor den himmlischen Vater getragen wird, versteht sich beinahe von selbst, liegt sicher innerhalb der Intention, und entspricht dann exakt einem Vertrauensverhältnis wie dem des Kindes zu seinem Vater.

Geheiligt werde Dein Name

Die Bitte um die Heiligung des Namens Gottes ist für Beter in Israel so allgemeingebräuchlich und selbstverständlich (vgl. etwa das aramäische Kaddischgebet „…geheiligt werde…“), dass sie uns zuallererst und vor allem zeigt, wie tief und selbstverständlich Jesu Gebetspraxis in der jüdischen Welt verwurzelt ist. Heiligkeit und Heiligung des Namens sind ein verbreitetes Motiv (Ps 103,1 u.a.).

Dein Reich komme

Auch die Bitte Dein Reich komme nimmt direkt ein frühjüdisches, altbekanntes Thema auf. Mit dem Königtum JHWHs, dem „Reich Gottes“ erscheint zugleich einer der viralsten Inhalte der Botschaft Jesu. Damit befinden wir uns mitten im Zentrum der ersten Christenheit (vgl. Eduard Lohse: Vater unser. 2./4. Aufl. 2012, hervorgegangen aus dem Festvortrag zur Verleihung des Leopold-Lucas-Preises 2007, durchgehend mit Bezug zur jüdischen Gebetspraxis z.B. im Achtzehnbittengebet). Letztlich verweisen alle Gebetsbitten des Vaterunsers indirekt oder direkt in die Worte und Taten Jesu, wie sie uns die Evangelien berichten. Manche Ausleger führen darum anhand des Vaterunsers in die gesamte Botschaft Jesu ein: Das Herrengebet bündelt Jesu Wort und Werk, so dass man wirklich sagen kann, dass hier eine Zusammenfassung der Lehre, Themen und Anliegen Jesu im innersten Reden des Herzens mit Gott vorliegt.

Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden

Bei Matthäus folgt auf die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes, die Bitte Dein Wille geschehe. Man kann auch diese Erläuterung wie schon bei der Vateranrede als eine inhaltsgleiche Ergänzung zum Voranstehenden auffassen. Denn: Gottes Reich kommt genau dann und darin, wenn Gottes Wille, wie schon im Himmel, so auch bei uns auf Erden geschieht.

Während klar impliziert ist, dass dann auch der so betende Mensch dem Willen Gottes entsprechen soll und will, ist für den Duktus des Gebetes bezeichnend, dass nicht zuvörderst der Mensch aufgefordert wird: Lass uns Dein Reich aufrichten, lass uns Deinen Willen durchsetzen…, sondern dass Gott selbst um die Heiligung seines Namens, das Kommen seines Reiches und die Durchsetzung seines Willens gebeten wird. Das gesagt, kann dann auch vom Tun des Menschen und seinem Lebensbereich die Rede sein.

Unser tägliches Brot gib uns heute

Dem entspricht die Zweiteilung des Vaterunsers. Nachdem die ersten drei Bitten („Du/Dein“) ganz dem Himmlischen Vater gewidmet sind, erscheint (erst) jetzt mit den Bitten der zweiten Hälfte das „Uns/Unser/Wir“. Tägliches Brot ist dabei mehrdeutig, es kann den Bedarf an Nahrungsmitteln meinen, aber auch im übertragenen Sinn alles was wir brauchen. („Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“)

Und vergib uns

Mit Vergebung von Schuld kommt ein weiterer Zentralbegriff der Botschaft Jesu zur Sprache. Erlass uns unsere Sünden (bei Matthäus heißt es: Schuld), wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. So wie in Jesu Gleichnis vom Schalksknecht oder mit der von ihm praktizierten Tischgemeinschaft mit den „Sündern“ steht die schöpferische Neuwerdung, die das ganze Leben umkrempeln will, an zentralster Stelle im Gebet des Herrn, das seine Jünger täglich sprechen mögen. Anders als der „Schalksknecht“ (Mt 18,23ff), soll derjenige, der um empfangene Vergebung und um die Gnade eines geschenkten Neuanfangs weiß, auch seinen Mitmenschen verzeihen und diesen immer wieder Neuanfänge gewähren.

Wie oft? Siebenmal? „Siebenundsiebzigmal“, erfährt der Jünger Petrus auf seine Nachfrage (und das im „strengen“ Matthäusevangelium, Mt 18,22). Denn: Der Menschensohn ist nicht eigentlich gekommen, um zu verurteilen (vgl. Joh 12,47). Sondern: Der Menschensohn ist gekommen „zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ So ist das Vaterunser zugleich ein sprechendes Monument und Zeugnis für das, was man die jesuanische Rechtfertigungspraxis (und somit die implizite jesuanische Rechtfertigungslehre) nennen könnte. Die hier im zentralen Lehrgebet der Christenheit eingeprägt wird.

Der Nachsatz wie auch wir vergeben unsern Schuldigern, ist der einzige Satz im ganzen Gebet, der von einem Tun des Menschen spricht. Die Verschränkung „wie Du uns, so wir den anderen“ wird bei Matthäus direkt im Anschluss an das Gebet noch durch zwei ausdrückliche Wiederholungen bestätigt und verstärkt (Mt 6,14f).

Und führe uns nicht in Versuchung

Mit der Bitte Führe uns nicht in Versuchung, endet bei Lukas das Gebet. Man könnte die Bitte als direkte Fortführung zum Satz davor verstehen: Bewahre uns davor, von dieser doppelt verschränkten Vergebungsbitte abzuweichen… Bei Matthäus steht ergänzend die Bitte um die Erlösung von dem Bösen.

„Das Gebet des Herrn ist die Zusammenfassung des gesamten Evangeliums“ (Tertullian). Es ist Lehrgebet, Themensammlung und Gebetsanleitung in einem. Mit einem traditionellen Gebetsschluss, wie jedes Gebet im alten Israel beendet wurde, schließt Matthäus ab: „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.“ Das Amen bekräftigt das ganze Gebet mit einem feierlichen „Fiat“: So sei es, so soll es geschehen.

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