Gelebte Rechtfertigung Wider das Flennertum in der Kirche. Eine Polemik

Haltlos – Gehalten: Rechtfertigung ist Vergebung und stiftet neues Leben. Die Bibel und ihre Botschaft zu übersetzen ins Heute und die heutige Welt, bleibt jetzt wie dann theologische Aufgabe.

„Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ (Lk 9,57f) Man kann diesen kurzen Abschnitt als einen Hinweis darauf lesen, wie eine Existenz in den Fußstapfen des großen Meisters zuallererst – und grundsätzlich – einen Gang in prinzipielle Ungesichertheit bedeutet. Ein Christ ist ja nicht ein Mensch, der wie auf Wolken durch das Leben schwebt. Er ist auch kein König Krösus, dem alles Gold wird, was er anfasst. Sondern er ist bodenständiger Realist. Wenn wir allein für dieses Leben auf Gott hofften, dann wären wir dumm dran und die elendesten Leute auf Erden, schrieb der Apostel Paulus.

Ungesicherte Existenz

Die Entsicherung der Existenz zieht sich durch die gesamte Christentumsgeschichte. Den großen eindrücklichen Gestalten wird nicht selten zuerst einmal schlicht der Boden unter den Füßen weggezogen. Der Mensch ist, ob das dann Religion „religionslos interpretiert“ ist, wie Dietrich Bonhoeffer es wünschte, oder nicht, in letzter Absolutheit ungesichert ohne Halt – wird aber durch Gottes Wort gehalten. Das gilt übrigens A) bereits im Alten Testament, dem ersten Bund ab der Urgeschichte, wie genauso C) für die ersten Christen und in gleicher Weise B) für die Brückenzeit, also alles was irgendwo dazwischen liegt in den verschiedensten Ausformungen. Adam und Eva müssen aus dem Paradies. Die ersten Jünger werden verfolgt. Weil auch der Mensch der Gegenwart in vielerlei Hinsicht „ungesichert“ ist, verunsichert, in Ungewissheit gegenüber allerlei Prognosen, hat dieses Wort auch heute viel zu sagen.

A) Sein im Wort

Der Mensch des Alten Testaments hat wesentlich sein Sein im Wort. Er existiert gewissermaßen ganz vom (einst) ergangenen Worte Gottes her und auf dieses hin. „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“. So ist es bei Isaak und Jakob. So ist es bei den Propheten, deren Hauptaufgabe es ist, Gottes Wort, den „Spruch Gottes“ auszurichten an ihre Adressaten. So ist es von der Auswanderung Israels aus Ägypten her, dem Auszug aus der Knechtschaft in die Freiheit, als Israel Gottes Wort und Weisung von Mose am Berg Sinai empfängt.

Dawar, hebräisch: Wort (דבר) bedeutet: Anliegen, Sache, Gegenstand. Dann auch Begebenheit, was sich ereignet hat. Vor allem aber: Rede. Wort. Das was gesprochen wird. In entsprechender Wortverbindung bedeutet es dann „etwas“, oder in Verneinung „nichts“.

Eine Untersuchung zum Menschenbild (eine Anthropologie) des Alten Testaments würde ebenfalls Hinweise auf jene grundlegende Ungesichertheit und unbestimmte Vagheit hervorbringen: Der Mensch mit seiner Seele ist ganz „Kehle“ (Hebr. näfäsch = Kehle, Leben, Seele), er schnappt immerzu nach dem, was gerade so vor der Nase ist (ob wachend oder schlafend im basalsten Grundvollzug). Er schnappt nach dem, was ihm gerade unter die Nase kommt, und um die Nase weht: der jeweilige Lufthauch (hebräisch gedacht ist das Ruach, d.h. Geist). Dass ihm das gewährt wird, davon ist er abhängig. Nicht zuletzt tiefenpsychologische Zugänge der jüngeren Zeit haben daher untermauert, dass die biblische Rechtfertigung bedingungsloser Annahme und Liebe eine Grunddimension des menschlichen Daseins anspricht und heilsam für den Menschen ist.

Als paradigmatisch für die reine Existenz im Wort – die prinzipielle Ungesichertheit sowie der alleinige Halt in Gott – kann dabei schon die einzige Stelle gelten, an der der geheimnisvolle Gottesname JHWH im Alten Testament erklärt wird: Mose wird als Gottes Name mitgeteilt (Ex 3,14): Ich bin, der ich bin, bzw. werde sein, der ich sein werde (vgl. „Schätze des Judentums“, evangelische aspekte 3/2019), was man auch so wiedergeben könnte: Ich bin für dich da, bzw. werde für dich da sein – und das reicht.

Typisch Mensch – so sind sie alle.

Auffällig ist weiter, dass das ganze Alte Testament hindurch nie Idealtypen gezeichnet werden; keine Sekunde wird der Eindruck erweckt, alles laufe immer glatt. Ganz im Gegenteil: Es ist geradezu ein Grundzug, dass es sich immerzu um Figuren handelt, die nur durch mehrmaliges Eingreifen des Höchsten und Lebendigen auf ihrer Spur bleiben und schließlich irgendwie ankommen (z.B. Jona). Vom kurzen Aufenthalt Adams und Evas im Paradies war schon die Rede. Ihr erster Sohn: Ein Kapitalverbrecher. Der erste König Saul wird schnell abtrünnig. Vom großen David wird keineswegs nur Rühmenswertes überliefert, und selbst König Salomo in seiner unbeschreiblichen Weisheit wird alsbald vom rechten Gottesglauben abfallen. Typisch Mensch. So sind sie alle, kann man als Grundbotschaft vermuten.

Nehemia spricht es aus: Aber „du bist ein Gott, der vergibt“ (Neh 8,17ff, vgl. Dan 9,18). Selbst Mose, der unübertroffene Gottesprophet, ein Kapitalverbrecher der ersten Stunde (2. Mose 2,2), reißt in der Wüste mehr als einmal der Geduldsfaden, ihm entfahren üble Worte, so dass er selbst am Ende das Gelobte Land nicht betreten wird, er darf es nur vom Berge Nebo aus der Ferne schauen.

Ja, so ist der Mensch, so wird es immer neu erzählt, in schier unermüdlicher Erzählfreude, am Gottesvolk lässt es sich ablesen. Das Gottesvolk zieht durch die Wüste auf dem Weg zur Freiheit, beginnt zu zweifeln, Gott greift ein, es fasst wieder Mut, geht kaum um die nächste Biegung und zaudert wieder, Gott greift ein, es wandert weiter, mag nicht mehr, Gott zürnt, greift wunderbarerweise ein, das Volk zieht weiter, zaudert, usw.: Der Mensch, (in sich) haltlos, aber (von Gott) immer wieder neu gehalten. So sieht sie aus, die Rechtfertigung des Menschen im Alten Testament.

C) Verweilen im Wort: Gelebte Rechtfertigung

Das hat eben auch etwas Tröstliches … Wir leben im Glauben, nicht im Schauen, sagt auch das Neue Testament. „Juden und Christen glauben an denselben Gott“ (s. Röm 3,29). Weil, wie hier behauptet, die Rechtfertigung des Menschen im Alten Testament identisch ist zum Neuen, kann abweichend von allgemein üblicher Zählung Abschnitt C) direkt nach A) angeschlossen werden. Wie der Mensch des Alten hat auch der Mensch des Neuen Testaments sein Sein ganz wesentlich im Wort. Wo der Mensch des Alten Testaments schon ist, da verweilt nun auch der Mensch des Neuen: Er verweilt im Wort, das ihm Vergebung zuspricht, Gottes Zukunft zeigt und ihn gehalten und erhalten sein lässt, selbst wo er in sich selber haltlos wurde oder ist. Dass das die Botschaft Jesu ist, berichten Markus, Lukas und Matthäus (Lk 15; Mt 5,1.17; Mk 2,10.17), übereinstimmend (zu Matthäus vgl. Die Gleichnisse Jesu, evangelische aspekte 2/2019). Indem Jesus mit den Ausgestoßenen, Randständigen, Benachteiligten Gemeinschaft hält, mit Verlorenen, Zöllnern, Sündern, setzt er die Rechtfertigung konkret ins Werk. Rechtfertigung ist Vergebung. Und stiftet neues Leben. Sie ergeht voraussetzungslos (Mk 10,15). Hat aber Folgen (Mk 1,17). Auch das Johannes-Evangelium schließt sich in der inhaltlichen Aussage bruchlos an (z.B. Joh 15,3). Paulus und Petrus beteuern energisch die volle Kontinuität ihrer Verkündigung zu den Zeugen des Alten Testaments (1Petr 1,10; Röm 3,21). Und im Brief an die Hebräer wird zum Beleg ausführlichst eben die Geschichte des Alten Israel referiert. So nimmt es denn nicht Wunder, dass bei so viel Geschlossenheit im Neuen Testament die Alte Kirche entschieden nicht nur jedwedem Pelagianismus eine klare Absage erteilt, sondern auch schon jedem Fünkchen eines Semi-Pelagianismus, der vielleicht nur ganz entfernt mit dem Gedanken einer Selbstrechtfertigung (also Selbstvergottung) spielt. Warum ist das so ungeheuer wichtig? Weil nur so das Leben und dessen Erhaltung bleibt, was es ist: Ein Geschenk von Gott, das er unverdient gibt und schöpferisch vollendet. So sieht sie aus, die Rechtfertigung des Menschen im Neuen Testament: Entsichert – gehalten – im Wort.

B) Rückkehr ins Paradies?

Ist das der Schlüssel zur Rückkehr ins Paradies? Der Cherub steht nicht mehr davor mit einem flammenden Schwert? In gewisser Weise: Ja. Im gewissen Wort ist der Mensch ja bereits zurückgekehrt zum Ausgangspunkt. Gesehen hat er noch nichts, aber es ist fest zugesagt, versprochen. Noch einmal Bonhoeffer, in einer Predigt: „Weil ich aber auf Erden nichts bin als ein Gast, ohne Recht, ohne Halt, ohne Sicherheit, weil Gott selbst mich so […] gemacht hat, darum hat er mir ein einziges Unterpfand für mein Ziel gegeben: sein Wort“ (vgl. Dietrich Bonhoeffer Lesebuch. hg.v. O. Dudzus, München 1985, S. 159). Das kann genügen. Das muss genügen. Das ist gelebte Rechtfertigung.

Wer getauft ist, hat bereits alles

Denn der Christenmensch braucht keine Sicherheit und keine Garantien mehr, weil er qua Taufe ja schon alles hat. Tatsächlich ist das die unverrückbare Zusage. Wer getauft ist, hat bereits alles. In sich ungesichert – im Wort gehalten; dem ist nichts hinzuzufügen. Hier gibt es kein Vertun! Indem vor bald 25 Jahren die katholisch-evangelische Erklärung zur Rechtfertigung, von zwei Päpsten vorbereitet, gutgeheißen und bestätigt (einem amtierenden und einem damals zukünftigen) sowie dann von den weltweiten methodistischen, reformierten und anglikanischen Kirchenbünden aufgenommen und mitunterzeichnet wurde, ist ein Tor weit aufgestoßen, durch das der Wohlgeruch des guten Hefeteigs des Reiches Gottes, d.h. der Rechtfertigung und der Vergebung, sich in der weltumspannenden Christenheit wieder wohltuend und einigend verbreitet.

Wer Jesus Christus für uns heute ist

„Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist“ (D. Bonhoeffer). Antwort: Sicher ist es zuerst der Jesus der Rechtfertigung, also der hingeht zu den Verlorenen, Armen, Verlassenen. Es ist der, der Halt gibt den Haltlosen – in seinem Wort schon jetzt in dieser Welt sowie erst recht in der zukünftigen. Worin die Verlorenheit besteht, das mag ganz unterschiedlich sein. Verlorenheit in Selbstsucht und Eigensinn? Verloren in Perfektionismus? Verloren in Wachstumswahn … (Jeder fülle es variabel auf seine konkrete Situation zugeschnitten, für sich passend aus…).

Haltlos – gehalten: Was auf den ersten Blick ein Nachteil schien, erweist sich in Hinsicht auf die hundert Windungen des Lebens als Stärke. Denn der Mensch des Glaubens ist hoch flexibel. Deshalb kann er auch wie Paulus „allen alles“ sein.

Gegen das Geflenne

Wegen diesem allem – und jetzt wird es polemisch – ist dringend etwas auszurichten gegen all dieses Geflenne in der Kirche. „Der Geist Gottes hat das Potenzial, die Welt zu verändern“, hieß es zu Pfingsten in der EKD. Recht hat sie.

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