Albert Scherr/Karin Scherchel: Wer ist ein Flüchtling? Grundlagen einer Soziologie der Zwangsmigration

Vandehoeck & Ruprecht 2019, 112 S., 15,00 EUR, e-Book 11,99 EUR

Von dem Untertitel sollten sich geneigte Leser*innen, die sich „nur“ für das Thema Zwangs- bzw. Massenmigration als der vielleicht größten gesellschaftspolitischen Herausforderung der nächsten Jahrzehnte interessieren und nach einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Informationen und Interpretationen dazu suchen, nicht abschrecken lassen. Die Verfasser bereiten ihren Text zwar auf der Basis einer soziologischen Herangehensweise auf, ihre Diktion ist aber allgemeinverständlich. Und ihre Analysen liefern all denjenigen umfangreiches Sachwissen auf vergleichsweise wenigen Seiten, die sich beispielsweise als engagierte Bürger*innen oder Medienleute in den öffentlichen Diskurs einmischen oder als Entscheider*innen in (Ausländer-)Behörden an ihm beteiligt sind. Das Buch ist erkenntlich als Plädoyer einer offenen Haltung gegenüber Menschen geschrieben, die aus unterschiedlichen Gründen ihrem Heimatstaat den Rücken kehren. Aber es gibt auch der Darstellung der zum Teil gravierenden (rechtlichen) Hürden und der in den europäischen Gesellschaften bestehenden Vorbehalte gegenüber „den Flüchtlingen“ ausreichend Raum und spricht darauf basierende, restriktive politische Entscheidungen nüchtern an.

Politische Entscheidungen sind primär nationale und an nationalstaatliche (oder auch europäische) Interessen gebundene. Scherr und Scherchel nennen das die Dominanz des „gewöhnlichen Nationalismus“. Gerade in demokratischen, an der Wohlfahrt ihrer Bürger*innen orientierten Staaten sind Regierungen durchaus gehalten, mit vornehmlicher Rücksicht auf die eigenen Staatsbürger*innen zu handeln. Diese sind der Souverän. Und das kodifizierte Recht ist das jeweilige (partikulare) Recht eines bestimmten Staates. Im Zusammenhang mit (Massen-)Migration und Flucht gerät dieses nun in einen Widerspruch zu internationalen Rechtsnormen und einer menschenrechtlichen, dem unbedingten Schutz des Individuums verpflichteten Moral mit universellem Geltungsanspruch.

Weil das Bewusstsein dafür sich erst langsam durchzusetzen beginnt, entfalten die Autoren eine „Konfliktsoziologie“. Konflikte als „universelle soziale Tatsachen“ können demnach „zu positiv bewertbaren Entwicklungen“ führen: „…wer ein Recht auf Aufnahme und Schutz haben soll, (soll) Gegenstand gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung“ (S. 79) sein. Damit kommen zivilgesellschaftliche Akteur*innen (etwa NGOs wie Pro Asyl), ins Spiel, und die Frage nach dem „Flüchtling“ gerät zu einer moralischen Herausforderung für uns alle. „Denn alles“ – mit den Worten des Philosophen Richard Rorty – „hängt davon ab, wer überhaupt als Mitmensch gilt“ (S. 84).

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