Liebe Leserin, lieber Leser,
das BKA verzeichnet für das Jahr 2018 in seiner Statistik 1.800 antisemitische Angriffe auf Juden, das sind im Durchschnitt fünf pro Tag. Der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus der Bundesregierung geht jedoch von einer großen Dunkelziffer aus. Im Bericht zur aktuellen Lage schreibt der Expertenkreis, es sei „mit einer systematischen Unterschätzung antisemitischer Vorfälle zu rechnen“. Gründe dafür, dass viele Attacken überhaupt nicht angezeigt werden, sind z.B. Angst vor Repressalien durch den Täter oder der Eindruck, dass eine Anzeige ohnehin nichts bewirke. Laut einer Studie der FRA, der Agentur der EU für Grundrechte, aus dem Jahr 2018 haben in Deutschland rund 80 Prozent derjenigen, die Opfer eines schweren antisemitischen Übergriffs geworden sind, diesen nicht bei der Polizei oder einer anderen Organisation angezeigt.
Unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger müssen täglich Angst haben, als Juden erkannt und gedemütigt zu werden. Auch unsere Autorin Juna Grossmann sitzt seit geraumer Zeit auf gepackten Koffern und wagt keine größeren Anschaffungen mehr, wie sie in ihrem Buch Schonzeit vorbei schreibt. In ihrem Bericht über Alltagsantisemitismus erzählt sie bei uns im Heft, wie es ist, Jüdin in Deutschland zu sein.
Lukas Waschbüsch wollte eigentlich „nur“ über jüdisches Gemeindeleben in Deutschland schreiben. Dass sein Bericht zu einer Anklageschrift wurde, liegt schlicht daran, dass Antisemitismus in jüdischen Gemeinden inzwischen zu einem prägenden Element geworden ist. Bewaffnete Polizisten vor Synagogen, jüdischen Schulen und Gemeindezentren sind optischer Beweis dafür.
Wie es bei den evangelischen aspekten guter Brauch ist, wird das Phänomen Antisemitismus in diesem Heft von ausgewiesenen Experten analysiert (Michael Blume) und auch in seinen Verkleidungen, wie z.B. mancher Israel-Kritik, (Rainer Stuhlmann) betrachtet.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind gesetzlich dazu verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen und die Würde der jüdischen Bevölkerung zu bewahren. In Deutschland steht diese Verpflichtung unter Artikel 3 im Grundgesetz und für Christen zählt sie ohnehin, handelt es sich doch um Gottes auserwähltes Volk. Also müsste doch alles in Ordnung sein. Ist es aber nicht.
Was Gesetze und Gesetzeshüter nicht schaffen, kann nur von uns allen angegangen werden: Wir müssen miteinander in Dialog treten, über fest eingegrabene Vorurteile nachdenken und aktiv werden. Unter dem Motto „Was jeder gegen Antisemitismus tun kann“ finden Sie Anregungen, um – bei sich selbst beginnend – etwas zum Guten zu ändern. Denn das wünsche ich Ihnen und mir: ein friedliches Miteinander und eine gute Portion Empathie.
In diesem Sinne grüßt
Ihre Heike Schmidt-Langer